07.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Er fühle sich nicht gut. Millie half gerade in der Küche aus, als ich zu Mrs. Plunkett kam, um ihr das mit der Suppe auszurichten. Sie hat fast immer eine heiße Suppe auf dem Herd. Gestern war es Hühnersuppe, natürlich selbst gemacht und äußerst nahrhaft. Millie bot an, sie mit dem Wagen zum Shearwater Cottage zu bringen. Es macht ihr Spaß, den Wagen zu fahren. Sie ist gegen drei Uhr aufgebrochen.«
Dalgliesh wandte sich an Millie. »Sie haben also die Suppe und den Whisky abgeliefert, und was ist dann passiert?«
»Dr. Speidel hat mir einen Brief gegeben, was sonst? Er hat gesagt, ob ich den wohl bei Mr. Oliver abgeben könnte, und ich hab gesagt, okay, gern.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Na, den Umschlag in den Postsack getan, was sonst?«
Mrs. Burbridge erläuterte: »Das ist ein Lederbeutel mit der Aufschrift Post, der am Armaturenbrett des Wagens befestigt ist. Dan Padgett liefert die Post an die Cottages aus und sammelt Briefe ein, die Jago dann aufs Festland bringt.«

J
etzt übernahm Kate die Befragung. »Und danach, Millie? Sind Sie direkt zum Peregrine Cottage gefahren? Und sagen Sie nicht, kann sein. Ja oder nein?«
»Nein, bin ich nicht. Dr. Speidel hat nichts davon gesagt, dass es dringend wäre. Er hat auch nichts davon gesagt, dass ich den Brief direkt zu Mr. Oliver bringen sollte. Er hat bloß gesagt, ich soll ihn bei ihm abgeben.« Mürrisch fügte sie hinzu: »Jedenfalls hab ichÕs vergessen.«
»Wieso haben Sie das vergessen?«
»Einfach so. Und überhaupt, ich wollte zurück auf mein Zimmer. Ich musste zum Klo, und da hab ich gedacht, ich wechsle mein Top und die Jeans. Ist doch wohl nicht schlimm, oder?«
»Natürlich nicht, Millie. Wo war der Wagen, während Sie auf Ihrem Zimmer waren?«
»Der stand draußen, was sonst?«
»War da der Brief von Dr. Speidel noch im Postbeutel?«
»Muss ja wohl, oder? Sonst hätt ich ihn ja nicht abliefern können.«
»Und wann war das?«
Millie antwortete nicht.
Kate hakte nach: »Was ist passiert, nachdem Sie sich umgezogen hatten? Wo sind Sie dann hin?«
»Also schön, ich bin runter zu Jago. Ich wusste, dass er bald mit dem Boot rausfahren wollte, um den Motor zu testen, und ich wollte mitfahren. Also bin ich runter zum Harbour Cottage. Er hat mir eine Tasse Tee und Kuchen angeboten.«
»Waren Sie mit dem Wagen dort?«
»Ja, genau. Ich bin mit dem Wagen hin und hab ihn auf dem Kai stehen lassen, während ich mich mit Jago in seinem Cottage unterhalten hab.«
Mrs. Burbridge sagte: »Millie, bist du denn gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass etwas Wichtiges in dem Umschlag sein könnte und dass Dr. Speidel bestimmt gedacht hat, du würdest ihn auf dem Rückweg zum Haupthaus abgeben?«
»Na, er hat aber nix davon gesagt, dass es dringend ist, und das war es ja auch nicht, oder? Die wollten sich doch eh erst heute Morgen um acht treffen.« Es entstand eine Pause. Millie fluchte: »Scheiße!«
Kate sagte: »Sie haben die Nachricht also gelesen.«
»Kann schon sein. Okay, ich habÕs gelesen. Ich mein, der Umschlag war offen. Wieso hat er ihn offen gelassen, wenn er nicht wollte, dass wer den Zettel liest? Dafür kommt man doch nicht vor Gericht.«

D
algliesh sagte: »Nein, Millie, aber wegen Mr. Olivers Tod könnte es irgendwann eine Gerichtsverhandlung geben, und wenn das passiert, müssen Sie vielleicht als Zeugin aussagen. Sie wissen, wie wichtig es ist, vor Gericht die Wahrheit zu sagen. Dort werden Sie dann unter Eid stehen. Wenn Sie uns jetzt anlügen, könnten Sie später arge Schwierigkeiten bekommen. Also, Sie haben die Nachricht gelesen?«
»Ja, hab ich doch schon gesagt.«
»Haben Sie Mr. Tamlyn erzählt, dass Sie sie gelesen haben? Haben Sie ihm erzählt, dass Dr. Speidel sich am Leuchtturm mit Mr. Oliver treffen wollte?«
Ein langes Schweigen entstand, dann sagte Millie: »Ja, ich habÕs ihm erzählt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Er hat gar nix gesagt. Ich mein, er hat nichts zu dem Treffen gesagt. Er hat bloß gemeint, ich sollte lieber gleich los und Mr. Oliver die Nachricht bringen.«
»Und dann?«
»Dann bin ich in den Wagen gestiegen, was sonst, und zum Peregrine Cottage gefahren. Ich hab niemanden gesehen und den Umschlag in den Briefkasten an der Haustür gesteckt. Ich denk mal, wenn er ihn nicht gekriegt hat, ist er immer noch da. Ich hab gehört, wie Miss Oliver im Wohnzimmer mit irgendwem geredet hat, aber der wollte ich ihn nicht geben. Die ist Õne hochnäsige, arrogante Zicke, und der Brief war eh nicht für sie. Dr. Speidel hat gesagt, ich soll ihn bei Mr. Oliver abgeben, und hätt ich ihn gesehen, dann hätt ichÕs auch gemacht. Also hab ich den Brief nur in den Kasten geworfen. Dann bin ich wieder in den Wagen und zurück zum Haupthaus und hab Mrs. Plunkett geholfen, das Dinner vorzubereiten.«

D
algliesh sagte: »Danke, Millie. Sie haben uns sehr geholfen. Sind Sie ganz sicher, dass es sonst nichts gibt, was wir wissen sollten? Irgendetwas, was Sie getan oder gesagt haben oder was jemand zu Ihnen gesagt hat?«
Da brach es aus Millie hervor: »Ich wünschte, ich hätte diesen beschiss-, diesen verdammten Brief nie in die Hände gekriegt. Ich wünschte, ich hätte ihn zerrissen!« Sie fuhr Mrs. Burbridge an: »Und Ihnen tutÕs nicht Leid, dass er tot ist. Keinem von euch! Ihr wolltet alle bloß, dass er von der Insel verschwindet, das war doch sonnenklar. Aber ich hab ihn gemocht. Ich fand ihn nett. Wir haben uns manchmal getroffen und sind spazieren gegangen. Wir waren É« Ihre Stimme wurde zu einem dumpfen Flüstern: »Wir waren Freunde.«
In die darauf folgende Stille hinein sagte Dalgliesh sanft: »Wann hat diese Freundschaft angefangen, Millie?«
»Als er das letzte Mal hier war. Im Juli, oder? Jedenfalls kurz nachdem Jago mich hergebracht hat. Da haben wir uns kennen gelernt.«

E
s entstand eine Pause, und Dalgliesh beobachtete, wie Millies Augen prüfend von einem Gesicht zum nächsten huschten. Sie hatte ihre verbale Bombe gezündet und war offensichtlich froh und vielleicht auch ein bisschen verstört ob der verheerenden Wirkung. Sie konnte die Reaktionen der anderen in dem kurzen Schweigen und in Mrs. Burbridges besorgtem Stirnrunzeln spüren.
Letztere sagte spitz: »Das hast du also morgens gemacht, wenn ich wollte, dass du die Wäsche kontrollierst. Du hast mir nur erzählt, du wärst spazieren. Und ich dachte, du wärst bei Jago im Harbour Cottage.«
»Na ja, war ich ja auch manchmal, oder? Und manchmal hab ich mich mit Mr. Oliver getroffen. Ich hab gesagt, ich war spazieren, und ich war spazieren. Spazieren mit ihm. Da ist nix dabei.«
»Aber Millie, als du zu uns gekommen bist, habe ich dir gesagt, dass du die Gäste auf keinen Fall stören darfst. Sie kommen hierher, um Ruhe zu finden, und Mr. Oliver ganz besonders.«
»Wer sagt denn, dass ich ihn gestört habe? Er musste sich ja nicht mit mir treffen. Das war seine Idee. Er war gern mit mir zusammen. Das hat er gesagt.«

D
algliesh ließ Mrs. Burbridge gewähren. Vorläufig nahm sie ihm sehr effektiv die Arbeit ab. Wieder erschienen zwei unvorteilhafte rote Flecke auf ihren Wangen, doch ihre Stimme klang resolut. »Millie, wollte er - na ja, wollte er mit dir schlafen?«
Die Reaktion war dramatisch. Millie schrie empört: »Das ist ja widerlich! Nein, wollte er nicht. Er ist alt. Älter als Mr. Maycroft. Das ist ekelig. So war das nicht. Er hat mich nie angefasst. Meinen Sie, er war ein Perverser oder was? Meinen Sie, der stand auf kleine Mädchen?«
Überraschenderweise mischte Benton sich ein. In seiner jugendlichen Stimme schwang Amüsiertheit mit, und in seinen Worten gesunder Menschenverstand. »Das mit den kleinen Mädchen passt nicht ganz, Millie, Sie sind kein Kind mehr. Aber manche ältere Männer verlieben sich in junge Frauen. Erinnern Sie sich an den reichen, alten Amerikaner, der letzte Woche in allen Zeitungen stand? Der hat nacheinander vier junge Frauen geheiratet. Alle haben sich von ihm scheiden lassen und sind sehr reich dabei geworden, und jetzt ist er mit der fünften verheiratet.«
»Klar, hab ich gelesen. Mr. Oliver war nicht so.«

D
algliesh sagte: »Millie, wir glauben Ihnen, dass er nicht so war, aber uns interessiert alles, was Sie uns über ihn erzählen können. Wenn Menschen unter mysteriösen Umständen sterben, ist es hilfreich zu wissen, was sie empfunden haben. Ob sie Sorgen hatten oder verstört waren, ob sie vor irgendwem Angst hatten. Anscheinend kannten Sie Mr. Oliver besser als jeder andere auf Combe, außer seiner Tochter und Mr. Tremlett.«
»Dann fragen Sie die doch.«
»Haben wir schon. Und jetzt fragen wir Sie.«
»Auch wenn das vertraulich ist?«
»Auch wenn es vertraulich ist. Sie mochten Mr. Oliver. Er war Ihr Freund. Sie wollen uns doch sicherlich helfen herauszufinden, warum er gestorben ist. Also überlegen Sie, und erzählen Sie uns, wann und wo Sie ihn kennen gelernt haben und wie Ihre Freundschaft zu ihm begann.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.09.2006