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Maycroft sagte: »Sie sollten sich wirklich von Dr. Staveley untersuchen lassen. Im Augenblick wären Sie hier im Krankenzimmer vielleicht besser aufgehoben als im Shearwater Cottage.«
Als wollte er das Gegenteil beweisen, stand Dr. Speidel auf. Er taumelte, und Dalgliesh sprang zu ihm, stützte ihn ab und half ihm zurück in den Sessel.
Speidel flüsterte: »Es ist nichts weiter. Nur etwas Husten und erhöhte Temperatur. Ich neige zu Bronchialinfekten. Jetzt würde ich am liebsten in mein Cottage zurückkehren. Wenn ich den Wagen benutzen dürfte, könnte Commander Dalgliesh mich vielleicht hinfahren.«
Die Bitte kam unerwartet. Dalgliesh bemerkte Maycrofts Verblüffung. Auch er war nicht minder irritiert, aber er sagte: »Sehr gern.« Er sah Maycroft an. »Steht der Wagen draußen?«
»Am Hinterausgang. Sind Sie in der Lage zu gehen, Dr. Speidel?«
»Absolut, ja, vielen Dank.«
Und tatsächlich schien er wieder bei Kräften zu sein. Er und Dalgliesh fuhren gemeinsam mit dem Aufzug nach unten. In dem engen Raum wehte ihn Speidels Atem säuerlich und warm an. Der Wagen parkte auf dem hinteren Hof, und sie fuhren schweigend los, zuerst über die holprige Straße und dann sachte schaukelnd querfeldein. Dalgliesh brannten noch immer einige Fragen unter den Nägeln, doch sein Instinkt sagte ihm, dass der Augenblick nicht günstig war.

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m Shearwater Cottage angekommen, half er Speidel ins Wohnzimmer und stützte ihn, bis dieser in einen Sessel sank. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie nichts weiter brauchen?«
»Danke, vollkommen. Und danke für Ihre Hilfe, Commander. Ich möchte Ihnen zwei Fragen stellen. Die erste lautet: Hat Nathan Oliver einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Wir haben noch keinen gefunden. Und Ihre zweite Frage?«
»Glauben Sie, er wurde ermordet?«
»Ja«, sagte Dalgliesh, »das glaube ich.«
»Danke. Mehr wollte ich nicht wissen.«
Er erhob sich. Dalgliesh wollte ihm die Treppe hinaufhelfen, doch Speidel machte eine ablehnende Geste und hielt sich am Geländer fest. »Es geht schon, danke. Einmal richtig durchschlafen, und ich bin wieder auf dem Posten.«
Dalgliesh wartete noch, bis Speidel wohlbehalten in seinem Schlafzimmer war, dann schloss er die Haustür des Cottage und fuhr wieder zum Combe House.
Zurück im Büro ließ er sich eine Tasse Tee geben und ging damit zu einem der Kaminsessel. Zu Maycroft sagte er: »Speidel hat keine Ahnung von Leuchttürmen. Den Namen John Wilkes habe ich erfunden, wie Sie sich gedacht haben werden. Denn wer Ihren Leuchtturm gebaut hat, wissen Sie ja schließlich am besten.«

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aycroft nahm in dem Sessel ihm gegenüber Platz, eine Teetasse in der Hand. Er rührte nachdenklich in seinem Tee, dann sagte er, ohne Dalgliesh anzusehen: »Mir ist sehr wohl bewusst, dass Sie mich nur deshalb bei dem Gespräch dabei sein ließen, weil Dr. Speidel hier Gast ist und ich im Namen des Stiftungsrates für sein Wohlergehen verantwortlich bin. Mir ist außerdem klar, dass ich genauso verdächtig bin wie alle anderen, falls wir es hier wirklich mit einem Mord zu tun haben, aber eins muss ich Ihnen sagen. Ich hatte das Gefühl, dass er die Wahrheit sagt.«
»Falls nicht, könnte es ein Problem werden, dass ich ihn vernommen habe, während er, wie er behaupten könnte, körperlich gar nicht dazu in der Lage war.«
»Er hat doch selbst darauf bestanden weiterzumachen. Wir haben ihn beide gefragt, ob er das auch wirklich will. Er wurde nicht genötigt. Inwiefern könnte das ein Problem sein?«
»Für die Anklagevertretung. Die Verteidigung könnte argumentieren, dass er zu krank war, um vernommen zu werden.«
»Er hat doch nichts gesagt, was irgendwie Licht auf Olivers Tod werfen könnte. Es ging nur um die Vergangenheit, um uralte, traurige Geschichten und längst vergessene Schlachten.«
Dalgliesh antwortete nicht. Er bedauerte, dass Maycroft während der Befragung dabei gewesen war. Es wäre schwierig geworden, ihn aus seinem eigenen Büro zu verbannen oder einen offensichtlich kranken Mann zu bitten, mit zum Seal Cottage zu kommen. Falls Speidel jedoch die Wahrheit gesagt hatte, dann stand der Zeitpunkt des Todes von Nathan Oliver jetzt eindeutig fest, und ihm wäre wohler gewesen, wenn nur er und sein Team das gewusst hätten. Oliver war am Morgen zwischen sieben Uhr fünfundvierzig und acht Uhr fünfzehn gestorben. Als Speidel zum ersten Mal zum Leuchtturm kam, musste Olivers Mörder irgendwo hinter dieser verriegelten Tür gewesen sein, und der Leichnam pendelte wahrscheinlich schon auf der seewärts gerichteten Seite langsam gegen die Mauer.

9
Dalgliesh fragte Maycroft, ob er auch für Millies Befragung das Büro benutzen durfte. Das könnte, so dachte er sich, für sie weniger einschüchternd sein, als wenn er sie bitten würde, zum Seal Cottage zu kommen - und es würde zweifellos schneller gehen.
Maycroft war einverstanden und fügte hinzu: »Wenn Sie nichts dagegen haben, wäre ich gern anwesend. Vielleicht könnte auch Mrs. Burbridge dazukommen. Sie hat den größten Einfluss auf Millie. Es könnte hilfreich sein, wenn eine Frau dabei ist, ich meine, zusätzlich zu einer Polizeibeamtin.«
»Millie ist doch schon achtzehn, oder? Sie ist volljährig, aber wenn Sie denken, dass sie Beistand braucht«, wandte Dalgliesh ein.

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aycroft beteuerte hastig: »Das habe ich nicht gemeint. Ich fühle mich nur verantwortlich dafür, sie hier aufgenommen zu haben. Wahrscheinlich war das damals ein Fehler, doch jetzt ist sie nun einmal hier und in diesen Schlamassel verwickelt, und natürlich war es für sie ein Schock, Olivers Leiche zu sehen. Irgendwie ist sie für mich noch immer ein Kind.«
Dalgliesh konnte Maycroft schlecht den Zutritt zu seinem eigenen Büro verweigern. Er hatte so seine Zweifel, ob Millie sich über die Anwesenheit von Mrs. Burbridge freuen würde, aber die Hauswirtschafterin schien eine vernünftige Frau zu sein, die hoffentlich wusste, wann sie besser den Mund hielt. Dalgliesh rief Kate und Benton-Smith über Funk hinzu. Einschließlich Maycroft und Mrs. Burbridge würde Millie sich also fünf Personen gegenübersehen. Das waren eigentlich zu viele, aber er wollte Kate und Benton unbedingt dabeihaben. Millies Aussage konnte ungemein wichtig sein.
Er sagte: »Dann rufen Sie doch bitte Mrs. Burbridge an und fragen sie, ob sie so nett wäre, Millie zu holen und gemeinsam mit ihr herzukommen.«

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aycroft wirkte verunsichert, weil ihm sein Wunsch so widerspruchslos gewährt wurde. Er griff zum Hörer und erledigte den Anruf. Dann ließ er stirnrunzelnd den Blick über das Büro wandern und begann, Stühle und Ledersessel in einem Halbkreis vor dem Kamin anzuordnen. Offensichtlich wollte er eine möglichst angstfreie und lockere Atmosphäre schaffen - da kein Feuer im Kamin brannte, wirkte das ganze Arrangement jedoch irgendwie fehl am Platze.
Es dauerte zehn Minuten, bis Mrs. Burbridge und Millie eintrafen. Dalgliesh fragte sich, ob sie unterwegs eine Auseinandersetzung gehabt hatten. Mrs. Burbridge presste die Lippen zusammen, und sie hatte zwei rote Flecke auf den Wangen. Millies Gemütsverfassung war noch einfacher abzulesen. Diese wechselte, unterstrichen mit der Ausdruckskraft einer Schauspielerin, die für eine Seifenoper vorspricht, von Erstaunen beim Betreten des Büros über Trotz zu einem verschlagenen Argwohn.
Dalgliesh bot Millie einen Sessel an, platzierte Kate ihr direkt gegenüber und nahm selbst rechts von Kate Platz. Mrs. Burbridge setzte sich neben Millie, und Benton und Maycroft nahmen die beiden noch freien Stühle.
Dalgliesh begann ohne Umschweife. »Millie, Dr. Speidel hat uns erzählt, dass er Ihnen gestern Nachmittag einen Umschlag für Mr. Oliver gegeben hat. Ist das richtig?«
»Kann schon sein.«

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rs. Burbridge schaltete sich ein. »Millie, sei nicht albern. Und stiehl uns allen nicht die Zeit. Entweder er hat oder er hat nicht.«
»Jaja, okay. Er hat mir eine Nachricht mitgegeben.« Dann platzte es aus ihr heraus. »Wieso müssen denn Mr. Maycroft und Mrs. Burbridge hier sein? Ich bin schließlich nicht mehr minderjährig.«
Millie kannte sich offenbar aus. Dalgliesh war nicht überrascht, aber er hatte nicht vor, irgendwelche kleineren Straftaten in der Vergangenheit in die Sache mit einzubeziehen. Er sagte: »Millie, es wird Ihnen hier nichts zur Last gelegt. Niemand behauptet, dass Sie etwas Unrechtes getan haben. Aber wir müssen genau wissen, was an dem Tag vor Mr. Olivers Tod passiert ist. Wissen Sie noch, wann Dr. Speidel Ihnen die Nachricht gegeben hat?«
»Wie Sie gesagt haben, am Nachmittag.« Sie stockte, fügte dann hinzu: »Vor vier.«

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rs. Burbridge erklärte: »Ich glaube, da kann ich Ihnen helfen. Dr. Speidel hatte angerufen und gesagt, er käme nicht zum Dinner, hätte aber gern Suppe zum Aufwärmen und etwas Whisky. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.09.2006