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Bei jedem anderen Verdächtigen - und Speidel war ebenso verdächtig wie jeder auf der Insel - hätte Dalgliesh auf die Notwendigkeit einer Morduntersuchung hingewiesen, aber bei Speidel erübrigte sich das. Er wartete ab, während der Mann sich die Stirn abwischte und anscheinend Kraft sammelte. Dalgliesh warf einen kurzen Blick zu Maycroft hinüber, dann sagte er: »Wenn Sie sich nicht in der Lage fühlen, das Gespräch fortzusetzen, können wir auch später weiterreden. Sie sehen aus, als hätten Sie Fieber. Wie Sie wissen, gibt es einen Arzt auf der Insel. Vielleicht sollten Sie sich an Guy Staveley wenden.«
Was nicht bedeutete, eine weitere Befragung sei nicht dringend: Sie war dringend, und besonders dann, wenn Dr. Speidel vielleicht bald in einem der Krankenzimmer liegen würde. Andererseits behagte es Dalgliesh nicht, einen Kranken zu bedrängen, und außerdem war es nicht ohne Risiko, einfach weiterzumachen, wenn Speidel einer Befragung nicht mehr gewachsen war.

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in ungeduldiger Unterton hatte sich in Speidels Stimme geschlichen. »Es geht schon. Ich habe lediglich Husten und eine leicht erhöhte Temperatur. Mir wäre es lieber, wenn wir weitermachten. Aber zuerst möchte ich bitte eine Frage stellen. Gehe ich recht in der Annahme, dass diese Untersuchung inzwischen zu einer Mordermittlung geworden ist?«
Dalgliesh erklärte: »Mord kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Bis der Bericht der Pathologin vorliegt, muss ich den Fall jedoch wie einen ungeklärten Todesfall behandeln.«
»Dann sollte ich Ihre Frage besser beantworten. Könnte ich bitte etwas Wasser haben?«
Maycroft war gerade auf dem Weg zum Beistelltisch, wo eine Karaffe stand, als es an der Tür klopfte. Mrs. Plunkett rollte einen kleinen Servierwagen mit drei Tassen, Teekanne, Milchkännchen und Zuckerschälchen herein.
Maycroft sagte: »Vielen Dank. Ich glaube, wir könnten auch noch etwas frisches Wasser gebrauchen. Möglichst kalt bitte.«
Während sie warteten, schenkte Maycroft den Tee ein. Speidel lehnte ab, ebenso wie Dalgliesh. Es dauerte nicht lange, und Mrs. Plunkett kehrte mit einem Krug und einem Glas zurück. »Es ist sehr kalt. Soll ich Ihnen einschenken?«

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peidel war aufgestanden, und Mrs. Plunkett reichte ihm das Glas. Beide nickten kurz, dann stellte die Köchin den Krug mit den Worten auf den Servierwagen: »Sie sehen gar nicht gut aus, Dr. Speidel. Sie gehören ins Bett.«
Speidel nahm wieder Platz, trank durstig und erwiderte: »Das tut gut. Meine Geschichte wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.« Er wartete, bis Mrs. Plunkett gegangen war und stellte dann sein Glas ab. »Wie ich bereits sagte, es handelt sich um eine vertrauliche Familienangelegenheit, von der ich gehofft hatte, sie würde es auch bleiben. Mein Vater ist hier auf der Insel gestorben, und die Familie hat sich nie bemüht, etwas über die genauen Umstände seines Todes herauszufinden. Der Grund dafür war, dass die Ehe meiner Eltern praktisch schon gescheitert war, ehe ich zur Welt kam. Meine Mutter stammte aus einer angesehenen preußischen Soldatenfamilie, und ihre Ehe mit meinem Vater wurde als Mesalliance betrachtet. Während des Krieges war mein Vater bei den Besatzungstruppen auf der Kanalinsel Guernsey stationiert. Allein das war für die Familie meiner Mutter ein Affront. Ihnen wäre ein Eliteregiment lieber gewesen, ein wichtigerer Einsatzort. Es ging das Gerücht, er habe zusammen mit zwei Offizierskameraden eine Fahrt hierher unternommen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Insel evakuiert worden war. Ich weiß bis heute nicht, wie sie auf die Idee kamen oder ob sie dafür überhaupt die Genehmigung ihres befehlshabenden Offiziers hatten. Ich vermute nein. Jedenfalls kehrte keiner der drei zurück. Eine Untersuchung, bei der diese Eskapade ans Licht kam, erklärte die drei als auf See verschollen. Die Familie war heilfroh, dass die Ehe zumindest nicht mit Schimpf und Schande oder gar mit Scheidung geendet hatte, was schlicht undenkbar gewesen wäre, sondern durch einen Tod im aktiven Dienst, wenn auch nicht so ehrenvoll, wie es die Familientradition verlangte.

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n jungen Jahren hat man mir nur sehr wenig über meinen Vater erzählt, und mein kindlicher Instinkt sagte mir, dass Fragen nicht gerade willkommen waren. Nach dem Tod meiner ersten Frau heiratete ich erneut, und jetzt habe ich einen zwölfjährigen Sohn. Er fragt oft nach seinem Großvater, und ich glaube, es verunsichert ihn sehr, dass gewisse Aspekte seines Lebens unbekannt und offenbar tabu sind, als müsste man sich seiner schämen. Ich habe ihm versprochen, dass ich herausfinden wollte, was damals geschehen ist. Offizielle Quellen waren nicht sehr aufschlussreich. Aus den Unterlagen ging hervor, dass die drei jungen Männer sich unerlaubt von der Truppe entfernt und ein dreißig Fuß langes Segelboot mit Motor genommen hatten. Sie kehrten nie zurück und wurden als vermisst gemeldet. Es wurde vermutet, sie seien ertrunken. Mehr Glück hatte ich, als es mir gelang, einen Offizierskollegen meines Vaters ausfindig zu machen, dem mein Vater sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Er erzählte mir, mein Vater und seine Kameraden hätten vorgehabt, auf einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls die deutsche Flagge zu hissen, wahrscheinlich nur, um zu beweisen, dass es machbar war. Combe Island war praktisch die einzige Insel, die in Frage kam, und daher fing ich dort mit meinen Nachforschungen an. Letztes Jahr besuchte ich Cornwall, aber nicht Combe Island. Ich sprach mit einem einheimischen Fischer, gut über achtzig, der mir einiges Informative sagen konnte, doch es war nicht einfach. Die Leute waren so misstrauisch, als befänden wir uns noch immer im Krieg. Jedenfalls habe ich bei eurer nationalen Obsession, was unsere jüngere Geschichte angeht, vor allem die Hitlerzeit, manchmal den Eindruck.« Eine gewisse Verbitterung war nicht zu überhören.
Maycroft lächelte. »Es wundert mich nicht, dass Sie den Einheimischen nicht viel über Combe Island entlocken konnten. Die Insel hat eine lange und unglückselige Geschichte, die in der Erinnerung der Leute weiterlebt. Und die Tatsache, dass die Insel in Privatbesitz ist und keine Besucher erlaubt sind, trägt auch nicht gerade dazu bei, ihr Image zu verbessern.«
»Immerhin erfuhr ich so viel, dass mir ein Besuch lohnenswert erschien. Ich wusste, dass Nathan Oliver hier geboren worden war und vierteljährlich zu Besuch kam. Das stand im April 2003 in einem Zeitungsartikel über ihn. Damals machte die Presse viel Aufhebens um seine Kindheit in Cornwall.«

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aycroft fragte: »Aber bei Kriegsausbruch war er doch noch ein Kind. Wie hätte er Ihnen da weiterhelfen können?«
»1940 war er vier Jahre alt. Hätte doch sein können, dass er sich an einiges erinnert. Und falls nicht, hatte ihm vielleicht sein Vater das eine oder andere über das erzählt, was während der Evakuierung geschehen war. Mein Informant hatte mir verraten, dass Oliver und sein Vater als Letzte die Insel verließen.«
Dalgliesh fragte: »Warum wollten Sie sich ausgerechnet im Leuchtturm mit ihm treffen? Sie hätten doch auf der gesamten Insel ungestört sein können. Wieso nicht bei Ihnen im Cottage?«

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algliesh entging nicht die Veränderung, die sich kaum merklich, aber unverkennbar, in Dr. Speidels Haltung vollzog. Die Frage behagte ihm offensichtlich nicht.
»Ich habe mich schon immer für Leuchttürme interessiert. Sie sind sozusagen ein Hobby von mir. Ich dachte, Mr. Oliver könnte mir einiges Wissenswerte über diesen Leuchtturm erzählen.«
Dalgliesh dachte, Wieso nicht Maycroft oder Jago? Er sagte: »Dann kennen Sie seine Geschichte? Dass der Leuchtturm der Nachbau eines älteren und berühmteren desselben Erbauers ist, John Wilkes, der auch Eddystone gebaut hat?«
»Ja, das weiß ich.« Speidels Stimme war mit einem Mal schwächer geworden, die Schweißperlen auf seiner Stirn liefen ineinander, und er schwitzte so stark, dass sein gerötetes Gesicht aussah, als würde es schmelzen.

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algliesh sagte: »Sie haben uns sehr geholfen, vor allem was die Todeszeit betrifft. Ich möchte den zeitlichen Ablauf so präzise wie möglich abklären. Wann genau kamen Sie am Leuchtturm an?«
»Wie gesagt, ich hatte mich etwas verspätet. Ich habe auf die Uhr gesehen. Es war sechs Minuten nach acht.«
»Und die Tür war verriegelt?«
»Vermutlich. Ich kam jedenfalls nicht rein, und auf mein Rufen meldete sich niemand.«
»Und wann waren Sie das zweite Mal da?«
»Etwa zwanzig Minuten später. So lange muss das ungefähr gedauert haben, allerdings habe ich da nicht auf die Uhr geschaut.«
»Gegen halb neun war die Tür also offen?«
»Angelehnt, ja.«
»Und ist Ihnen während dieser Zeitspanne irgendjemand aufgefallen, am Leuchtturm oder während Sie zu Fuß unterwegs waren?«
»Ich habe niemanden gesehen.« Er legte die Hand an den Kopf und schloss die Augen.
Dalgliesh nickte. »Danke, wir machen jetzt besser Schluss.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.09.2006