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Atomtechnik vor Sensation

Deutsche Physiker verkürzen die Halbwertszeit radioaktiver Stoffe

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Forscher aus Bochum und Bielefeld haben herausgefunden, dass sich die Halbwertszeit radioaktiver Stoffe extrem verkürzen lässt. Eine sensationelle Erkenntnis, die die Atomenergie-Technologie revolutionieren kann.

Mögliche Folgen wären:
- Castortransporte könnten ebenso überflüssig werden wie Zwischenlager und Endlagerstätten
- Gewinnung konventioneller Energie aus Atommüll
- Geburt einer neuen Generation von Kraftwerken
- Stärkung Deutschlands als Entwickler und Exporteur zukunftsträchtiger Technologien
- Stärkung des Wirtschaftsstandorts Nordrhein-Westfalen
Bislang glaubte die Physik, radioaktives Material strahle gemäß unverrückbaren Naturgesetzen. Diese Annahme ist falsch, wie die Wissenschaftler herausfanden. Ihr im Grunde genial einfaches Verfahren sieht vor, den radioaktiven Stoff in flüssiges Metall (oder in eine Legierung) einzubetten und auf wenige Grad Kelvin (0 Grad Kelvin = - 273,16 Grad Celsius) herunterzukühlen. Folge: Die Abgabe strahlender Masse (Alpha-Teilchen) wird enorm beschleunigt, die sogenannte Halbwertszeit verkürzt sich - nach derzeitigem Forschungsstand - um Größenordnungen bis zum Faktor 100.
»Ausgehend von diesen Erkenntnissen könnte sich die Atomtechnologie entscheidend wandeln«, sagte am Freitag Professor Karl-Ulrich Kettner. Der Astrophysiker von der Fachhochschule Bielefeld trug mit mehreren Ideen zum Erfolg des Teams der Ruhruniversität Bochum um Projektleiter Prof. Claus Rolfs bei.
»Reaktorabfälle belasten die Menschheit nicht mehr auf Tausende von Jahren hinaus - vielmehr lässt sich die Verantwortung auf drei nachfolgende Generationen verteilen«, versichert Kettner. Atommüll lasse sich in noch zu entwickelnden neuartigen Kraftwerken entsorgen wie derzeit Hausmüll in Müllverbrennungsanlagen. »Nach ersten Berechnungen reduziert sich die Halbwertszeit von Radium-226 von etwa 1600 Jahren auf höchstens 100 Jahre.«
Die Halbwertszeit gibt an, nach welcher Zeit nur noch die Hälfte der ursprünglich radioaktiven Masse übriggeblieben ist. Nimmt man beispielsweise 100 Gramm des Radiumisotops 226, so strahlen nach 1600 Jahren noch 50 Gramm, nach weiteren 1600 Jahren 25 Gramm, undsoweiter. Am Ende des Prozesses steht stabiles, nicht radioaktiv zerfallendes Blei.
Bislang wurde nuklearer Abfall in isolierendes, nicht leitendes Material gebettet. »Ein Fehler«, sagt Kettner. Denn in leitenden Metallen kann sich ein Teil der negativ geladenen Elektronen frei bewegen, die klassische Bahn um den positiv geladenen Atomkern verlassen und sich näher an diesem Kern positionieren. Dieses »electron screening« lockert die Bindung der Bestandteile des Atomkerns (Protonen und Neutronen), so dass die eingeschlossenen Alphateilchen (die Radioaktivität) schneller entweichen können.
Bis die Wissenschaft unmittelbare Früchte trägt, werden noch Jahre vergehen. Kettner hofft, dass sich Politik und Industrie schnellstens von der milliardenteuren Entsorgungswirtschaft auf neue Technologien umorientieren. Aus aller Welt: Hintergrund
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Artikel vom 05.08.2006