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»Ich segne dich, und du
sollst ein Segen sein!«

Ohne Bahnhofsmission fehlte ein Stück Menschlichkeit

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). »Gott segne euch!« Dieser Satz zum Abschied ist so ziemlich der schönste Lohn für die Mitarbeiter der Bahnhofsmission. Seit 1899 kümmert man sich unmittelbar neben den Gleisen um Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.

Morgens werden in der winzigen Küche Brote geschmiert. Reiseproviant -Ê aber nach einem gültigen Fahrschein für die Bahn fragt hier niemand. Ein älterer Gast, unverkennbar Berliner, der sich als »Biene Maja« bezeichnet, hat Hunger und zieht mit ein paar Wurst- und Käse-Schrippen glücklich von dannen: »Gott segne euch!«
»Wir begreifen uns als eine soziale Ambulanz, die Hilfeleistungen anbahnt«, sagt Marcel Bohnenkamp, der die Bielefelder Bahnhofsmission (in der Zeile neben dem Haupteingang) leitet. Derzeit sorgen jeweils drei oder vier Haupt- und Ehrenamtliche in zwei Schichten dafür, dass es Alkohol- und Drogenkranke etwas einfacher haben, aber auch gebrechliche Senioren, überforderte Mütter und alleinreisende Kinder gehören zur Klientel der Mannschaft.
»Ich muss los«, ruft Reinhold Becker, der um 14.15 Uhr eine ältere Dame in Empfang nehmen und über ein paar Gleise hinweg sicher zum Anschlusszug nach Berlin geleiten soll. Bevor sich die Tür hinter ihm schließt, tritt schon der nächste Gast ein und hält eine leere Plastikflasche in den Raum: »Es ist so heiß - bitte etwas Wasser!« Marion Schmidt, Krankenschwester im Ruhestand, erfüllt diesen Wunsch umgehend.
1896 gründete ein Berliner Arzt die Bahnhofsmission, und drei Jahre später entstand ein Ableger in Bielefeld, dessen Bahnhof schon damals das war, was man heute einen »sozialen Brennpunkt« nennt. Mittlerweile gibt es bundesweit 100 Bahnhofsmissionen; die in Bielefeld wird von Gemeindedienst und Caritasverband getragen. Bohnenkamp will jetzt Missionen in Gütersloh und Herford ins Leben rufen - mit Reinhard Becker, der Soziologie studierte und in Bielefeld die Bahnhofsmission kennenlernte, als erstem Ansprechpartner.
Die ökumenische Institution mit dem roten achtspitzigen Kreuz (evangelisch) und der gelben Papstschärpe im Emblem wird vom Solidaritätsgedanken getragen, wie Marion Schmidt lobend hervorhebt. »Wir haben den Segen des Papstes, der schon vor gut 40 Jahren erklärte: ÝIhr arbeitet in meinem Sinne!Ü«, sagt Bohnenkamp. Neuerdings prangt das Emblem vor blauem Hintergrund von den Postern: »Unser neues Corporate Design!« Auch im Dienst des Herrn wird Englisch gesprochen . . .
»Wir vermitteln Menschen in der Krise ins soziale Netz«, erklärt Bohnenkamp (35), der Chemie und Erdkunde studierte, nebenher Obdachlose betreute, vor zehn Jahren zur Religion zurückfand (»meine Renaissance des Glaubens«) und seither segensreich für die Bahnhofsmission wirkt. Konkret: Wer medizinische Versorgung braucht, wird ins Krankenhaus oder an den Straßenarzt verwiesen, wer mit den Drogen nicht mehr klarkommt, wird zu den sozialen Diensten geleitet. Und wer sich im Bahnhof nicht zurechtfindet, freut sich über einen kundigen Helfer.
Manchmal ist diese vielseitige Anlaufstelle -Ê zum Monatsende, wenn Hart IV ausgegeben ist, schauen bis zu 70 Gäste täglich vorbei -Ê aus ganz profanen Gründen hochwillkommen: Im Schrank lagern Sonnenmilch und Haftcreme für die dritten Zähne. »Und ein Gast, dem auf dem Weg zum Bewerbungsgespräch die Hosennaht geplatzt war, fand hier alles, um das gute Stück wieder zu nähen.«
Regelmäßig treffen sich Missionsarbeiter und Gäste zu Andachten. Jeden dritten Freitag im Monat vermitteln wechselnde Geistliche Trost und Halt im christlichen Glauben. Im Juli war der evangelisch-freikirchliche Pastor Rolf-Rüdiger Schuster eingeladen, der den »Bielefelder Tisch« leitet. Tenor seiner auf Genesis 12,2 beruhenden Predigt: Wer im Sinne Gottes wirkt, dem wird es nie an Gottes Gaben mangeln. »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.« Treffender lässt sich die Tätigkeit der Bahnhofsmission kaum in Worte fassen. Die Bielefelder Institution (Am Bahnhof 1b; Tel.: 05 21 / 6 56 81) ist täglich, außer sonntags, von 7.00 bis 19 Uhr geöffnet.

Artikel vom 04.08.2006