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Teile der Identität
für immer vergessen

Amnesie durch Stress, Schlaganfall und Depression

Bielefeld (dpa). Wie alt bin ich? Bin ich verheiratet? Wo bin ich zur Schule gegangen und was ist mein Beruf? Retrograde Amnesie heißt ein solcher Verlust von Erinnerungen. Dieser Gedächtnisverlust kann nach einem Unfall oder einem Schlaganfall eintreten. Aber auch dauerhafter Stress, Angst oder Depression können Auslöser für eine Amnesie sein, wie Professor Hans-Joachim Markowitsch von der Universität Bielefeld berichtet. Besonders betroffen bei einer solchen psychogenen Amnesie ist das autobiografische Gedächtnis.

In der Bielefelder Gedächtnisambulanz untersuchen der Neuropsychologe und sein Team bis zu 50 Patienten im Jahr. »Negativer Stress hat Auswirkungen auf das Gehirn, und Gedächtnisverlust ist eine der möglichen Konsequenzen«, sagt Markowitsch. »Besonders junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren sind davon betroffen. Ursache dafür sind vermutlich die ersten Rückschläge im Erwachsenenalter und Orientierungslosigkeit.« Wie viele Menschen in Deutschland betroffen seien, könne nicht genau ermittelt werden, weil es in vielen Fällen falsche Diagnosen gebe - viele Betroffenen landeten dann in einer Psychiatrie.
Vor allem traumatisierten Menschen drohe ein Gedächtnisverlust. »Negative Kindheitserlebnisse oder zum Beispiel Kriegserfahrungen im Erwachsenenalter erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer psychogenen Amnesie«, erklärt Markowitsch. Im Falle von akutem Stress oder psychischem Druck könne das Gedächtnis mit einer Blockade reagieren. Die Erinnerungen an die eigene Lebensgeschichte seien zwar nicht gelöscht, aber nicht mehr abrufbar. Das sei wie eine Schutzfunktion, damit das Gehirn nicht unter der Belastung zusammenbreche.
Ein Beispiel sind Patienten, die die so genannte Wanderlust packt. Sie stehen häufig unter einem permanenten Druck bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Hirn diesen Zustand nicht mehr aushält und blockiert. »Wir hatten einen Mann hier, der, anstatt Brötchen zu holen, wie er es eigentlich vorhatte, mit seinem Fahrrad bis nach Paris gefahren ist. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, nicht mal an seinen eigenen Namen«, berichtet Markowitsch. Im Laufe einer Therapie stellte sich heraus, dass der Mann sein gesamtes Leben lang unter enormem Leistungsdruck gestanden hatte.
Für solche Phänomene suchen Markowitsch und sein Team Erklärungen auf der neurologischen Ebene. »Bei Stress wie zum Beispiel dem Posttraumatischen Stress-Syndrom (PTSD) schrumpft das Gehirn in dem Bereich, in dem Emotionen und Kognition zusammenlaufen. Dort haben Stresshormone die meisten Rezeptoren, und dort entsteht die biografische Erinnerung. Die Kopplung dieser beiden Funktionen gelingt nicht mehr, und dann kann es zu einer Gedächtnisblockade kommen.« Die Hirnfunktion werde sozusagen heruntergefahren.
Mithilfe einer Therapie können die Erinnerungen manchmal wieder aktiviert werden. »Zurzeit werden die Patienten zwar, sofern sie es wünschen, psychotherapeutisch begleitet, aber eine wirkliche Therapie im Sinne von Heilungsverbesserung gibt es nicht«, sagt Nadine Reinhold von der Bielefelder Gedächtnisambulanz. »In einigen Fällen kommt es spontan zu einer Wiederkehr der Erinnerungen, andere Patienten finden sich damit ab und beginnen ein neues Leben.« Auffällig in diesen Fällen: eine »emotionale Verflachtheit« dieser Patienten.
Markowitsch bekräftigt aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung, nach denen unser Gedächtnis gepflegt werden kann: »Untersuchungen an gesunden Personen haben ergeben, dass das Gehirn wie der Körper beim Bodybuilding trainiert werden kann. Ein aktives und ausgeglichenes Leben ist gut für das Gehirn. Inaktives Leben birgt zumindest die Gefahr eines früheren Ausbruchs von Krankheiten wie Alzheimer oder Depressionen.« Traumata aus der Kindheit können nicht korrigiert werden, aber die Gefahr, sich selbst zu vergessen, sinkt.

Artikel vom 01.09.2006