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Kein Geld für
Schulbücher

»ALG-II-Empfänger überfordert«

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Kinder von Alleinerziehenden oder Bedarfsgemeinschaften stehen morgen möglicherweise ohne Schulbücher da. Das befürchtet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW-OWL. »Wer Arbeitslosengeld II bezieht, kann das Geld für Schulbücher nur schwer oder gar nicht aufbringen«, sagte die Vorsitzende Sabine Unger dieser Zeitung.
Sabine Unger: »Kinder nicht beschämen!«

Wenn Eltern nicht zahlen, belastet das den Etat der Schulen, denn die ordern per Sammelbestellung die Bücher. Die Schulen könnten die Bücher so lange zurückhalten, bis das Geld nachgereicht wurde. Für die Jungen und Mädchen der Bedarfsgemeinschaften sei die Situation, als arme Kinder in der Klasse erkennbar zu sein, »beschämend und peinlich«, sagte Unger. Nach der neuen Rechtslage erhalten nur noch Sozialhilfe-Empfänger, die als »nicht erwerbsfähig« eingestuft worden sind, die Lernmittel von der Kommune weiter bezahlt. Bezieher von ALG-II, die »dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen«, sollen den Eigenanteil für Schulbücher selbst aufbringen. Folglich argumentierten immer mehr Städte und Gemeinden, die Kosten seien im ALG II enthalten, beklagt die Lehrergewerkschaft GEW.
Eine alleinerziehende Mutter erhält 345 Euro pro Monat, für Kinder unter 14 Jahren jeweils 207 und für Kinder zwischen 14 und 17 Jahren 276 Euro. Kindergeld wird angerechnet. Bei Bedarfsgemeinschaften erhalten beide Partner nicht das selbe Geld: Der zweite »Hilfsbedürftige« bekommt nach Angaben der Arbeitsagentur in Bielefeld nur 311 Euro im Monat. Im Juli bezogen 116 993 Menschen in Ostwestfalen-Lippe Arbeitslosengeld II, darunter 27 680 Bedarfsgemeinschaften mit Nachwuchs unter 15 Jahren. Immerhin 1517 Bedarfsgemeinschaften haben vier oder mehr Kinder.
Im Lernmittelfreiheitsgesetz NRW wird den Erziehungsberechtigten ein Eigenanteil von mindestens einem Drittel bis zu 49 Prozent an den Kosten für Bücher auferlegt. In Euro und Cent umgerechnet bedeutet das: Eltern müssen pro Schuljahr und Kind in der Grundschule einen Eigenanteil von bis zu 18 Euro und für die Sekundarstufe I. einen Durchschnittsbetrag von bis zu 39 Euro aufbringen. Für die gymnasiale Oberstufe fallen Kosten von bis zu 35 Euro an. »Das ist aber noch nicht alles«, gibt Sabine Unger zu bedenken: »Eltern finanzieren darüber hinaus pädagogisches Zusatzmaterial für Leselehrgänge und Rechtschreibtrainings.«
Wenn morgen das neue Schuljahr beginnt, befürchtet sie, dass Kinder von ALG-II-Empfängern möglicherweise ohne Bücher da stehen oder ihnen »uralte Bücher in die Hand gedrückt werden«. Nicht alle Erziehungsberechtigten hätten das Geld übrig gehabt, das Lernmaterial zu bezahlen, weiß Unger. Nun würden sie von Lehrern und Schulleitungen ermahnt, den Eigenanteil zu entrichten.
»Wenn Kinder keine Bücher haben, kommen sie sich arm vor«, weiß Unger. Dass seelische Einschränkungen den Lernfortschritt behindern, sei erwiesen. Um Kindern von Bedarfsgemeinschaften aus der Patsche zu helfen, kämen Lehrer auf die Idee, ganze Bücher zu kopieren. Dies sei aber rechtswidrig. Deshalb appelliert die GEW an die Städte und Gemeinden in OWL zu beschließen, die Anschaffungskosten dauerhaft zu übernehmen. Wenn nicht, könnten Erziehungsberechtigte in Härtefällen beim Schulträger Befreiung beantragen.
Um Kinder kostenlos mit Heften und Stiften auszustatten, hat die Diakonie Paderborn-Höxter in Paderborn, Borchen und Bad Lippspringe Schulmaterialienkammern eingerichtet. Wer den ALG-II-Bescheid und Personalausweis vorlegt, darf zudem auf Zuschüsse zu Büchern hoffen. S. 4: Kommentar

Artikel vom 08.08.2006