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Und jetzt würde ich gern wieder zum Murrelet Cottage gehen, falls Sie keine weiteren Fragen haben.«
Er verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Benton sagte: »Was war denn das für eine seltsame Nummer, Sir. Erst gibt er zu, dass er sich nur zum Dinner angemeldet hat, um mit Oliver einen Streit vom Zaun zu brechen, dann folgt er ihm nach draußen, um sich entweder mit ihm zu versöhnen oder ihn noch weiter zu bedrohen. Er scheint nicht genau zu wissen, was von beidem, und der Mann ist Wissenschaftler.«
Dalgliesh lachte: »Selbst Wissenschaftler können sich irrational verhalten. Er lebt und arbeitet unter ständiger Gefahr für sich und seine Familie. Das Hayes-Skolling-Labor steht unter besonders heftigem Beschuss vonseiten radikaler Tierschützer.«
Benton schnaubte: »Und da kommt er nach Combe und lässt seine Frau und Kinder schutzlos zurück.«
Kate warf ein: »Das wissen wir nicht, aber eins ist sicher, Sir. Nach Dr. Yellands Aussage würde kein Mensch glauben, dass wir es hier mit Mord zu tun haben. Er hat es gerade ziemlich darauf angelegt, uns einzureden, dass Oliver sich umgebracht hat.«
Benton sagte: »Vielleicht weil er es ehrlich glaubt. Schließlich hat er die Abdrücke an Olivers Hals nicht gesehen.«
»Nein, aber er ist Wissenschaftler. Wenn er sie gemacht hat, wird er auch wissen, dass sie da sein müssen.«


7
Miranda Oliver sagte am Telefon, dass sie für eine Befragung bereit sei, falls Commander Dalgliesh jetzt gleich käme. Da er eine vermutlich trauernde Tochter vernehmen musste, hielt Dalgliesh es für angemessen, nur Kate mitzunehmen. Benton sollte unterdessen zwei Dinge erledigen: die Abstände von den Cottages zum Leuchtturm vermessen und Fotos von der unteren Klippe machen, vor allem von den Stellen, wo man vergleichsweise leicht hinunterklettern oder -rutschen konnte. Die untere Klippe stellte in jedem Fall ein Problem dar. Sie war so dicht bewachsen, dass die Bewohner der Cottages auf der Westseite der Insel die letzten vierhundert Meter zum Leuchtturm sicherlich ungesehen zurücklegen konnten.

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eregrine Cottage war größer, als es vom Hubschrauber aus gewirkt hatte, denn aus der Luft hatte es sich im Vergleich zu Combe House und sogar seinem Nachbarn Seal Cottage recht klein ausgenommen. Es lag etwas abseits vom Pfad in einer flachen Mulde, weiter von der Klippe entfernt als die übrigen Cottages. Es war nach dem gleichen Muster erbaut: Steinwände, kleiner Vorbau, zwei Fenster im Erdgeschoss und zwei direkt unter dem Schieferdach, nur hatte hier dieser schlichte Einheitslook etwas Trostloses, ja Abschreckendes an sich. Vielleicht vermittelten die Entfernung von der Klippe und die Abgeschiedenheit in der Senke den Eindruck bewusster Isolation, jedenfalls aber den eines Cottage, das von vornherein weniger attraktiv war als seine Nachbarn.
Die Vorhänge der unteren Fenster waren geschlossen. Es gab einen schmucklosen Türklopfer, und als Kate ihn behutsam benutzte, wurde ihnen fast augenblicklich geöffnet. Miranda Oliver trat beiseite und bedeutete ihnen mit einer steifen Armbewegung einzutreten.
Dalgliesh hatte sich noch rasch die Zeit genommen, im WhoÕs Who die wichtigsten Fakten über Nathan Oliver nachzulesen, ehe er sein Büro in London verließ, und so wusste er, dass Oliver 1970 geheiratet hatte und sechsunddreißig gewesen war, als seine Tochter zur Welt kam. Die junge Frau, die ihn jetzt gefasst ansah, wirkte jedoch älter als ihre zweiunddreißig Jahre. Sie hatte einen strammen Vorbau und zeigte erste Ansätze einer matronenhaften Rundlichkeit. Kaum Ähnlichkeit mit ihrem Vater war vorhanden, außer vielleicht von der ausgeprägten Nase und der hohen Stirn, aus der das volle, hellbraune Haar nach hinten gekämmt und mit einem wollenen Band im Nacken zusammengebunden worden war. Der Mund zwischen den leicht hängenden Wangen war klein und fest. Das Auffälligste an ihr waren die graugrünen Augen, die ihn jetzt ruhig taxierten. Sie sahen nicht im Geringsten verweint aus.

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algliesh stellte sich und Kate vor. Momente wie diesen hatte er in seiner Laufbahn als Detective schon oft erlebt, und sie waren ihm nie leicht gefallen, ebenso wenig wie irgendeinem der Kollegen, die er kannte. Höfliche Beileidsbekundungen mussten ausgesprochen werden. In seinen Ohren klangen sie bestenfalls unaufrichtig und schlimmstenfalls unpassend rührselig. Diesmal kam er jedoch gar nicht dazu.
Miranda Oliver ergriff gleich das Wort: »Selbstverständlich habe ich einen großen Verlust erlitten. Schließlich bin ich seine Tochter und war fast mein gesamtes Erwachsenenleben eine enge Mitarbeiterin. Aber der Tod meines Vaters ist zugleich auch ein immenser Verlust für die Literatur und die Welt.« Sie hielt inne. »Darf ich Ihnen vielleicht was anbieten? Kaffee? Tee?«
Die Szene kam Dalgliesh fast grotesk vor. Er sagte: »Nein, danke. Verzeihen Sie, dass wir Sie gerade jetzt stören müssen. Ich bin sicher, dass Ihnen die Notwendigkeit einleuchtet.« Da ihm kein Platz angeboten worden war, fügte er hinzu: »Wollen wir uns setzen?«

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as Zimmer nahm die gesamte Länge des Cottage ein. Vom Essbereich führte eine Tür, wie Dalgliesh vermutete, in die Küche, und Olivers Arbeitsplatz war im hinteren Bereich. Vor dem Fenster mit Blick aufs Meer stand ein schwerer Eichenschreibtisch, daneben ein quadratischer Tisch mit Computer und Kopierer. Eichenregale nahmen zwei der Wände ein. Der Essbereich diente zugleich als kleines Wohnzimmer mit zwei hohen Sesseln rechts und links von dem steinernen Kamin und einem Sofa unter dem Fenster. Das Ganze wirkte irgendwie unbehaglich und kahl. Es lag kein wahrnehmbarer Brandgeruch in der Luft, aber auf dem Rost im Kamin lagen verkohlte Papierreste und weiße Asche.
Sie nahmen am Esstisch Platz, und Miranda Oliver schien so gefasst, als wäre das bloß ein Anstandsbesuch. Im selben Moment hörten sie schwerfällige Schritte, die langsam die Treppe herabkamen, und ein junger Mann erschien. Er musste ihr Klopfen gehört haben, musste wissen, dass sie da waren, aber seine Augen wanderten von Dalgliesh zu Kate, als wäre er über ihre Anwesenheit erschrocken. Er trug Jeans und darüber einen dunkelblauen dicken Guernsey-Pullover, der seinen zarten Körperbau noch betonte. Anders als Miranda sah der Mann vollkommen fertig aus, vielleicht vor Trauer oder Furcht oder beidem. Er hatte ein jugendliches, verletzliches Gesicht, und die Haut seiner Lippen war fast farblos. Das braune Haar war zu einem glatten und sehr kurzen Pony über den tief liegenden Augen geschnitten, wie bei einem Mönchsnovizen. Dalgliesh rechnete fast damit, eine Tonsur zu entdecken.
Miranda Oliver erklärte: »Das ist Dennis Tremlett. Er war der Lektor und Sekretär meines Vaters. Ich denke, ich sollte Ihnen sagen, dass Dennis und ich frisch verlobt sind. Nun, wahrscheinlich hat man Ihnen das bereits erzählt.«
»Nein«, sagte Dalgliesh, »das hat man nicht.« Er überlegte, ob er dem Paar gratulieren sollte. Stattdessen sagte er: »Würden Sie sich bitte zu uns setzen, Mr. Tremlett?«

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remlett kam zum Tisch. Dalgliesh bemerkte, dass er leicht hinkte. Nach kurzem Zögern setzte Tremlett sich auf den Stuhl neben Miranda. Sie bedachte ihn mit einem besitzergreifenden Blick, der fast schon bedrohlich ausfiel, und streckte die Hand nach der seinen aus. Er schien unsicher, ob er sie ergreifen sollte, doch ihrer beider Finger berührten einander ganz kurz, ehe er seine Hände unter den Tisch schob.
Dalgliesh fragte: »Seit wann genau sind Sie verlobt?«
»Während Daddys letztem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten haben wir erkannt, dass wir uns lieben. Das war in Los Angeles. Offiziell verlobt haben wir uns erst gestern, und ich habe es meinem Vater gestern Abend gesagt.«
»Wie hat er die Neuigkeit aufgenommen?«

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r meinte, er habe schon länger das Gefühl gehabt, wir seien einander näher gekommen, daher kam es nicht völlig überraschend für ihn. Er hat sich für uns gefreut, und ich habe ihm kurz von unseren Zukunftsplänen erzählt, dass wir in der Londoner Wohnung leben könnten, die er für Dennis gekauft hat, zumindest bis wir etwas Eigenes gefunden hätten, dass wir seine gute Versorgung nach wie vor sicherstellen würden, und dass Dennis und ich ihn jeden Tag besuchen würden. Er wusste, dass er ohne uns nicht zurechtkommen würde, und wir wollten auch weiterhin für ihn da sein. Natürlich hätte es einige Veränderungen in seinem Leben nach sich gezogen. Wir haben uns die ganze Zeit über gefragt, ob er nur so getan hat, als freue er sich für uns, ob ihn die Vorstellung, allein zu leben, nicht doch mehr Angst gemacht hat, als uns klar war. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Wir wollten eine zuverlässige Haushälterin suchen, und wir wären tagsüber bei ihm gewesen, doch vielleicht war die Neuigkeit doch ein größerer Schock für ihn, als mir in dem Moment bewusst war.« Kate fragte: »Dann haben Sie allein ihm also die Nachricht beigebracht. Sie haben Ihren Vater nicht gemeinsam konfrontiert?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.08.2006