30.08.2006
|
Er verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Benton sagte: »Was war denn das für eine seltsame Nummer, Sir. Erst gibt er zu, dass er sich nur zum Dinner angemeldet hat, um mit Oliver einen Streit vom Zaun zu brechen, dann folgt er ihm nach draußen, um sich entweder mit ihm zu versöhnen oder ihn noch weiter zu bedrohen. Er scheint nicht genau zu wissen, was von beidem, und der Mann ist Wissenschaftler.«
Dalgliesh lachte: »Selbst Wissenschaftler können sich irrational verhalten. Er lebt und arbeitet unter ständiger Gefahr für sich und seine Familie. Das Hayes-Skolling-Labor steht unter besonders heftigem Beschuss vonseiten radikaler Tierschützer.«
Benton schnaubte: »Und da kommt er nach Combe und lässt seine Frau und Kinder schutzlos zurück.«
Kate warf ein: »Das wissen wir nicht, aber eins ist sicher, Sir. Nach Dr. Yellands Aussage würde kein Mensch glauben, dass wir es hier mit Mord zu tun haben. Er hat es gerade ziemlich darauf angelegt, uns einzureden, dass Oliver sich umgebracht hat.«
Benton sagte: »Vielleicht weil er es ehrlich glaubt. Schließlich hat er die Abdrücke an Olivers Hals nicht gesehen.«
»Nein, aber er ist Wissenschaftler. Wenn er sie gemacht hat, wird er auch wissen, dass sie da sein müssen.«
7
P
Die Vorhänge der unteren Fenster waren geschlossen. Es gab einen schmucklosen Türklopfer, und als Kate ihn behutsam benutzte, wurde ihnen fast augenblicklich geöffnet. Miranda Oliver trat beiseite und bedeutete ihnen mit einer steifen Armbewegung einzutreten.
Dalgliesh hatte sich noch rasch die Zeit genommen, im WhoÕs Who die wichtigsten Fakten über Nathan Oliver nachzulesen, ehe er sein Büro in London verließ, und so wusste er, dass Oliver 1970 geheiratet hatte und sechsunddreißig gewesen war, als seine Tochter zur Welt kam. Die junge Frau, die ihn jetzt gefasst ansah, wirkte jedoch älter als ihre zweiunddreißig Jahre. Sie hatte einen strammen Vorbau und zeigte erste Ansätze einer matronenhaften Rundlichkeit. Kaum Ähnlichkeit mit ihrem Vater war vorhanden, außer vielleicht von der ausgeprägten Nase und der hohen Stirn, aus der das volle, hellbraune Haar nach hinten gekämmt und mit einem wollenen Band im Nacken zusammengebunden worden war. Der Mund zwischen den leicht hängenden Wangen war klein und fest. Das Auffälligste an ihr waren die graugrünen Augen, die ihn jetzt ruhig taxierten. Sie sahen nicht im Geringsten verweint aus.
D
Miranda Oliver ergriff gleich das Wort: »Selbstverständlich habe ich einen großen Verlust erlitten. Schließlich bin ich seine Tochter und war fast mein gesamtes Erwachsenenleben eine enge Mitarbeiterin. Aber der Tod meines Vaters ist zugleich auch ein immenser Verlust für die Literatur und die Welt.« Sie hielt inne. »Darf ich Ihnen vielleicht was anbieten? Kaffee? Tee?«
Die Szene kam Dalgliesh fast grotesk vor. Er sagte: »Nein, danke. Verzeihen Sie, dass wir Sie gerade jetzt stören müssen. Ich bin sicher, dass Ihnen die Notwendigkeit einleuchtet.« Da ihm kein Platz angeboten worden war, fügte er hinzu: »Wollen wir uns setzen?«
D
Sie nahmen am Esstisch Platz, und Miranda Oliver schien so gefasst, als wäre das bloß ein Anstandsbesuch. Im selben Moment hörten sie schwerfällige Schritte, die langsam die Treppe herabkamen, und ein junger Mann erschien. Er musste ihr Klopfen gehört haben, musste wissen, dass sie da waren, aber seine Augen wanderten von Dalgliesh zu Kate, als wäre er über ihre Anwesenheit erschrocken. Er trug Jeans und darüber einen dunkelblauen dicken Guernsey-Pullover, der seinen zarten Körperbau noch betonte. Anders als Miranda sah der Mann vollkommen fertig aus, vielleicht vor Trauer oder Furcht oder beidem. Er hatte ein jugendliches, verletzliches Gesicht, und die Haut seiner Lippen war fast farblos. Das braune Haar war zu einem glatten und sehr kurzen Pony über den tief liegenden Augen geschnitten, wie bei einem Mönchsnovizen. Dalgliesh rechnete fast damit, eine Tonsur zu entdecken.
Miranda Oliver erklärte: »Das ist Dennis Tremlett. Er war der Lektor und Sekretär meines Vaters. Ich denke, ich sollte Ihnen sagen, dass Dennis und ich frisch verlobt sind. Nun, wahrscheinlich hat man Ihnen das bereits erzählt.«
»Nein«, sagte Dalgliesh, »das hat man nicht.« Er überlegte, ob er dem Paar gratulieren sollte. Stattdessen sagte er: »Würden Sie sich bitte zu uns setzen, Mr. Tremlett?«
T
Dalgliesh fragte: »Seit wann genau sind Sie verlobt?«
»Während Daddys letztem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten haben wir erkannt, dass wir uns lieben. Das war in Los Angeles. Offiziell verlobt haben wir uns erst gestern, und ich habe es meinem Vater gestern Abend gesagt.«
»Wie hat er die Neuigkeit aufgenommen?«
E
Artikel vom 30.08.2006