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Der Stiftungsrat möchte sicherstellen, dass sie diese Rückzugsmöglichkeit auch weiterhin haben. Bislang ist es auf der Insel gelungen, zu verwirklichen, was dem Stifter ursprünglich vorschwebte, aber nur, weil die Menschen, die hier arbeiten - Sie alle - engagiert, loyal und absolut zuverlässig sind. Ich bitte Sie um ihre Loyalität und Diskretion auch in dieser Sache und darum, Mr. Dalgliesh nach Kräften zu unterstützen, damit Mr. Olivers Tod rasch aufgeklärt werden kann.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Alle Augen wandten sich dem Neuankömmling zu. Er trat ruhig und selbstsicher ein und nahm auf einem der leeren Stühle am Tisch Platz.

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algliesh war erstaunt, wie so oft, wenn er einen renommierten Wissenschaftler kennen lernte, dass Yelland so jung schien. Er war groß - gut über ein Meter achtzig - und hatte helles lockiges Haar, dessen Länge und Widerspenstigkeit den Eindruck von Jugendlichkeit noch verstärkten. Eine markante Kinnpartie und der feste Zug um den dünnlippigen Mund ersparte dem attraktiven Gesicht die Fadheit eines herkömmlich guten Aussehens. Allerdings hatte Dalgliesh selten ein Gesicht betrachtet, das so von Erschöpfung gezeichnet war und dem man den jahrelangen Stress und auch die Last der Verantwortung in diesem Maße ansah. Doch die Autorität des Mannes war unverkennbar, als er sich nun vorstellte.
»Mark Yelland. Ich habe die Nachricht von Olivers Tod gerade erst auf dem Anrufbeantworter gehört, als ich zum Mittagessen ins Murrelet Cottage zurückkam. Ich vermute, dieses Treffen soll dazu dienen, die Todeszeit zu bestimmen.«
Dalgliesh sagte: »Ich möchte Sie fragen, ob Sie Mr. Oliver nach dem Dinner gestern Abend oder irgendwann heute Morgen begegnet sind.«
Yellands Stimme klang überraschend rau, mit einem Ostlondoner Einschlag. »Man hat Ihnen sicherlich von unserer Auseinandersetzung beim Dinner erzählt. Ich bin heute Morgen noch niemandem begegnet, weder tot noch lebendig, bis ich diesen Raum betreten habe. Sonst kann ich Ihnen bei der Zeitfrage leider nicht weiterhelfen.«
Stille trat ein.

M
aycroft warf Dalgliesh einen Blick zu. »Ist das im Augenblick alles, Commander? Dann danke ich Ihnen allen für Ihr Kommen. Bitte halten Sie mich oder einen von Mr. Dalglieshs Mitarbeitern auf dem Laufenden, wo Sie zu finden sind.«
Mit Ausnahme von Mrs. Burbridge erhob sich die gesamte Gesellschaft und trottete nach draußen wie eine ermattete Gruppe von Studenten nach einem besonders langweiligen Seminar. Mrs. Burbridge hingegen stand entschlossen auf, blickte kurz auf ihre Uhr und schleuderte Maycroft zum Abschied eine giftige Bemerkung nach, als sie an ihm vorbei zur Tür ging. »Ich fand, Sie haben das alles sehr tüchtig gemanagt, Rupert, aber Ihre Ermahnung, loyal und diskret zu sein, war völlig überflüssig. Wann, in der ganzen Zeit, die wir auf der Insel sind, hatte sich denn einer von uns je anders verhalten als loyal und diskret?«
Dalgliesh sprach Yelland leise an, als dieser die Tür erreichte. »Hätten Sie wohl noch einen kurzen Moment Zeit, Dr. Yelland?« Und nachdem Benton-Smith die Tür hinter dem letzten Inselbewohner geschlossen hatte, sagte Dalgliesh: »Ich habe Sie gebeten zu bleiben, weil Sie meine Frage, ob Sie nach halb zehn gestern Abend noch mit Mr. Oliver gesprochen haben, nicht beantwortet haben. Ich hätte aber gern eine Antwort.«
Yelland starrte ihn unverwandt an. Erneut war Dalgliesh beeindruckt von der Ausstrahlung des Mannes.
Dann sagte Yelland: »Ich lasse mich nicht gern ausfragen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Deshalb habe ich mir auch mit meinem Kommen Zeit gelassen. Ich habe Nathan Oliver heute Morgen weder gesehen noch mit ihm gesprochen, und um die Tageszeit geht es ja wohl, es sei denn, er hat spätnachts noch den Entschluss gefasst, sich in die finale Finsternis zu stürzen. Ja, ich habe ihn nach dem Dinner tatsächlich noch gesehen. Als er ging, bin ich ihm nach draußen gefolgt.«
Und weder Maycroft noch Staveley hatten es für nötig befunden, dachte Dalgliesh, das zu erwähnen.

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ch bin ihm gefolgt, weil unsere Debatte eher bissig als erhellend war. Ich hatte mich nur zum Dinner angemeldet, weil ich genau wusste, dass Oliver auch da sein würde. Ich wollte ihn wegen seines neuen Buchs zur Rede stellen, ihn dazu zwingen, sich dafür zu rechtfertigen. Doch mir wurde klar, dass ich ihn zur Zielscheibe eines Zorns gemacht hatte, dessen Ursache woanders lag. Deshalb war es wichtig, ihn noch einmal zu sprechen. Bei manchen Leuten hätte ich mir nicht die Mühe gemacht. Ich bin unempfindlich gegen Ignoranz und Boshaftigkeit. Na ja, vielleicht nicht unempfindlich, aber meistens komme ich psychisch damit klar. Bei Oliver war das anders. Er ist der einzige moderne Autor, den ich lese, zum Teil, weil ich kaum Zeit für Romane finde, hauptsächlich jedoch, weil ich seine Bücher nicht für Zeitverschwendung halte. Er gibt sich nicht mit Trivialitäten ab. Ich denke, er leistet das, was Henry James als den Sinn und Zweck eines Romans definiert hat: Dem Herzen des Menschen zu helfen, sich selbst zu erkennen. Ein bisschen hochtrabend. Wenn man allerdings Gefallen an den Spitzfindigkeiten der Literatur findet, steckt darin ein Körnchen Wahrheit. Es ging mir nicht darum, mein Tun zu rechtfertigen. Der einzige Mensch, den ich davon überzeugen muss, bin schließlich ich selbst -, aber ich wollte, dass er es versteht, oder zumindest ein Teil von mir wollte das. Ich war sehr müde und hatte beim Dinner zu viel Wein getrunken. Ich war nicht betrunken, konnte jedoch nicht mehr klar denken. Eigentlich hatte ich zwei einander widersprechende Motive. Ich wollte irgendwie mit dem Mann Frieden schließen, dessen absolute Hingabe an seine Kunst ich verstand und bewunderte, und ich wollte ihn warnen, dass ich eine einstweilige Verfügung gegen ihn beantragen würde, sollte er sich je wieder an einen meiner Mitarbeiter heranmachen oder meine Laborarbeit behindern. Natürlich hätte ich das nicht wirklich getan. Damit hätte ich uns ja genau die Publicity eingehandelt, die wir nicht gebrauchen können. Aber ich war noch immer wütend. Er blieb stehen, als ich näher kam, und schließlich drehte er sich in der Dunkelheit um und hörte mir zu.«
Eine Pause trat ein. Dalgliesh wartete.

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elland fuhr fort: »Ich erklärte ihm, dass ich im Verlauf von manchen Experimenten fünf Primaten benutze - und das Wort ist durchaus zutreffend. Sie werden umsorgt, gut verpflegt, trainiert, beschäftigt - sogar geliebt. Ihr Tod ist schmerzloser als jedes Sterben in der Natur, und ihr Tod könnte letzten Endes dazu beitragen, die Schmerzen von Abertausenden Menschen zu lindern, vielleicht sogar zu heilen, ja einige der quälendsten und hartnäckigsten Krankheiten auszumerzen, die die Menschheit kennt. Muss es nicht auch für das Leiden eine Art Bilanz geben? Ich wollte ihm eine Frage stellen: Wenn der Tod meiner fünf Tiere das lebenslange Leiden von fünfzigtausend anderen Tieren - nicht Menschen - beenden oder sogar ihr Leben retten könnte, würde er dann nicht den Verlust dieser fünf für vertretbar halten, und zwar nach allen Regeln der Vernunft und der Moral? Warum also nicht auch für Menschen? Er sagte: ÝIch interessiere mich nicht für das Leiden anderer, ob Mensch oder Tier. Ich habe mich nur auf eine Diskussion eingelassen.Ü Ich sagte: ÝAber Sie sind ein bedeutender moralischer Schriftsteller. Sie verstehen das Leiden.Ü Ich weiß noch genau, was er antwortete: ÝIch schreibe darüber, ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht instinktiv fühlen. Könnte ich es fühlen, dann könnte ich nicht darüber schreiben. Sie verschwenden Ihre Zeit, Dr. Yelland. Wir tun beide, was wir tun müssen. Keiner von uns hat eine Wahl. Aber es gibt ein Ende. Für mich ist dieses Ende sehr nah.Ü Er sprach mit einer kolossalen Mü?digkeit, als wäre ihm das alles längst egal. Da habe ich mich abgewandt und bin gegangen. Ich hatte den Eindruck, mit einem Menschen gesprochen zu haben, der am Ende seiner Kraft war. Er war genauso gefangen wie eins meiner Tiere. Mir ist gleichgültig, was alles gegen einen Selbstmord sprechen mag. Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass Nathan Oliver sich umgebracht hat.«
Dalgliesh sagte leise: »Danke. Und das war das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen oder gesprochen haben?«
»Ja, das letzte Mal. Vielleicht das letzte Mal, dass ihn überhaupt jemand lebend gesehen hat.« Er stockte kurz und fügte dann hinzu: »Es sei denn, natürlich, es war Mord. Bestimmt bin ich zu naiv. Wahrscheinlich messe ich Olivers letzten Worten zu viel Bedeutung zu. London würde wohl kaum seinen berühmten Dichter-Detective herschicken, um einen mutmaßlichen Selbstmord auf einer kleinen Insel zu untersuchen.«
Falls die Bemerkung nicht spöttisch gemeint war, so klang sie jedenfalls so. Kate, die neben Benton stand, glaubte, ein leises Knurren zu vernehmen wie von einem verärgerten Welpen. Das Geräusch war so ulkig, dass sie ein Lächeln unterdrücken musste.

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elland fügte hinzu: »Vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich Nathan Oliver bis zu dem Dinner gestern Abend und unserer anschließenden Unterhaltung nie zuvor begegnet bin. Ich habe ihn als Schriftsteller geachtet, aber ich mochte ihn nicht. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.08.2006