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Er ahnte bereits, dass die allgemeine Abneigung gegen Nathan Oliver tiefere Ursachen haben musste als nur seinen unangenehmen Charakter oder den Streit um ein Cottage. Miss Emily Holcombe konnte allein aufgrund ihrer Herkunft Nathan Oliver gewiss die Stirn bieten. Dalgliesh war gespannt auf das Gespräch mit Miss Holcombe. War Padgett vielleicht ein wehrloseres Opfer gewesen?
Jetzt sagte Padgett: »Ich hab vor dem Abendessen einen Spaziergang gemacht, aber um acht war ich wieder in meinem Cottage und bin auch nicht mehr rausgegangen. Ich hab Mr. Oliver weder gestern Abend noch heute Morgen gesehen.«

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illie sagte: »Ich auch nicht«, und blickte herausfordernd zu Kate hinüber, als erwarte sie von ihr Widerspruch. Dalgliesh fand es verwunderlich, dass jemand, der fast wie ein Kind wirkte, sich dafür entschieden hatte, auf Combe zu arbeiten - und dort auch angenommen worden war. Diese kleine, einsame und bestens abgeschirmte Insel wäre den meisten jungen Leuten unerträglich gewesen. Sie trug eine kurze verwaschene Jeansjacke, die mit vielen Stickern verziert war, und sie rutschte unentwegt auf dem Stuhl hin und her, so dass von Zeit zu Zeit ein schmaler Streifen zarter, junger Haut zwischen Jackensaum und Jeansbund hervorblitzte. Das helle Haar war zu einem Pferdeschwanz nach hinten gekämmt, und die Strähnen des ungebärdigen Ponys verbargen halb den Blick auf ein scharf geschnittenes Gesicht und kleine rastlose Augen. Die Erschütterung vom Morgen war ihr nicht mehr anzumerken, und der kleine Mund zeigte mürrische Streitlust. Commander Dalgliesh befand, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, Millie weiter zu befragen, dass sie aber unter vier Augen und wenn er geschickt vorging, sich als informativer herausstellen konnte als die älteren Anwesenden.
Nun richteten sich alle Blicke auf Jago. »Da Mr. Oliver beim Dinner noch quicklebendig war, wollen Sie wahrscheinlich nichts über den Freitagnachmittag wissen. Ich habe in meinem Cottage zu Abend gegessen. Würstchen mit Kartoffelpüree, falls es Sie interessiert. Heute Morgen bin ich rund vierzig Minuten mit der Barkasse rausgefahren, um den Motor zu testen. Der hat in letzter Zeit so seine Mucken. Das hat ungefähr von Viertel vor acht bis zwanzig nach acht gedauert.«
Kate fragte: »Wo sind Sie hingefahren? Ich meine, in welche Richtung?«
Jago starrte sie an, als wäre ihre Frage unbegreiflich. »Schnurgerade raus und schnurgerade wieder zurück, Miss. Es war keine Vergnügungsfahrt.«
Kate beherrschte ihren Unmut. »Sind Sie am Leuchtturm vorbeigekommen?«
»Wie denn, wenn ich einfach raus aufs Meer fahre und wieder zurück?«
»Sie konnten dabei den Leuchtturm sehen?«
»Ich hätte ihn sehen können, wenn ich in die Richtung geguckt hätte, hab ich aber nicht.«
»Der ist doch schwerlich zu übersehen.«
»Ich war mit dem Boot beschäftigt. Ich hab nichts und niemanden gesehen. Bis Millie um halb zehn kam, war ich allein in meinem Cottage. Die Aufregung begann, als Mr. Boyde anrief und sagte, dass Mr. Oliver vermisst würde und ich zu dem Suchtrupp stoßen sollte. Den Rest hab ich Ihnen schon erzählt.«
Millie schaltete sich ein. »Du hast gesagt, du würdest die Barkasse erst um halb zehn testen. Du hattest versprochen, mich mitzunehmen.
»Tja, ich habĂ•s mir eben anders überlegt. Und versprochen hab ich dir gar nichts, Millie.«
»Du wolltest nicht mal, dass ich mitkomme und suchen helfe. Du hast gesagt, ich soll im Cottage bleiben. Ich weiß nicht, wieso du immer so gemein bist.« Sie schien kurz davor, in Tränen auszubrechen.

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eder Staveley noch seine Frau hatten sich hingesetzt. Als Dalgliesh sie nebeneinander am Fenster stehen sah, fiel ihm auf, wie unterschiedlich sie waren. Guy Staveley verströmte eine innere Anspannung, die von einer fast bewusst kultivierten Durchschnittlichkeit im Zaum gehalten wurde, ein Eindruck, den die strahlende Vitalität seiner Frau zusätzlich unterstrich. Sie war nur ein paar Zentimeter kleiner als ihr Mann, hatte volle Brüste und lange Beine. Das blonde, an den Wurzeln dunklere Haar, war ebenso dicht wie seines schütter war, und wurde von zwei roten Kämmen gehalten. Einige helle Strähnen lockten sich in die Stirn und umrahmten ein Gesicht, in dem die ersten Spuren der Zeit die selbstsichere Weiblichkeit nicht beeinträchtigten, sondern im Gegenteil noch verstärkten. Man hätte in ihr leicht nur den Typus sehen können, die attraktive, sexuell anspruchsvolle Frau, die einen schwächeren und erfolglosen Mann dominiert. Dalgliesh hatte sich jedoch stets vor Stereotypen gehütet und dachte auch in diesem Moment, dass die Wahrheit womöglich subtiler und wesentlich interessanter war - und sich auch als gefährlicher erweisen konnte. Von allen im Raum war sie die entspannteste. Sie hatte sich für den Anlass seriöser gekleidet, als sie das bestimmt sonst an einem normalen Wochentag tat. Die cremefarbene Steppjacke über der eng geschnittenen schwarzen Hose schimmerte seidig. Sie trug sie offen, und darunter lugte ein schwarzes T-Shirt mit weitem Halsausschnitt hervor, der den Ansatz ihrer Brüste erahnen ließ.

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ie ergriff das Wort: »Meinen Mann haben Sie ja schon kennen gelernt, als Sie am Ort des Verbrechens waren. Oder ist Selbstmord kein Verbrechen mehr? Beihilfe zum Selbstmord ist aber eins, oder? Ich glaube nicht, dass Oliver Hilfe brauchte. Diesmal musste er alles allein machen.«
Kate sagte: »Könnten Sie bitte die Frage beantworten, Mrs. Staveley?«
»Ich war gestern Abend mit meinem Mann zum Dinner hier. Wir haben danach beide noch in der Bibliothek Kaffee getrunken. Dann sind wir zurück zum Dolphin Cottage und waren dort zusammen, bis wir uns kurz vor elf schlafen gelegt haben. Keiner von uns hat das Cottage verlassen. Ich halte nichts von dieser Frischluftmanie vor dem Zubettgehen. Wir haben zusammen im Cottage gefrühstückt - Grapefruit, Toast und Kaffee, falls Sie das interessiert, und dann bin ich in die Praxis gegangen, um auf Oliver zu warten. Er war um neun Uhr zur Blutabnahme angemeldet. Als er um zwanzig nach neun noch immer nicht da war, habe ich angefangen herumzutelefonieren, weil ich wissen wollte, wo er blieb. Er war ein zwanghafter Typ, und obwohl ihm vor Spritzen graute, hätte ich auf jeden Fall gedacht, dass er entweder anruft und absagt oder pünktlich erscheint. Ich habe mich nicht an der Suche beteiligt, im Gegensatz zu meinem Mann. Dadurch habe ich erst erfahren, was passiert war, als Guy zurückkam und es mir erzählte. Nun, das wissen Sie ja schon alles.«
Dalgliesh sagte unbeirrt: »Es wäre trotzdem hilfreich, es von Ihnen zu hören.«
Sie lächelte. »Meine Darstellung dürfte sich wohl kaum von der meines Mannes unterscheiden. Wir hatten bis zu Ihrer Ankunft reichlich Zeit, uns ein Alibi zu überlegen, wenn wir gewollt hätten.«

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s war nicht zu verkennen, dass ihre Offenheit den anderen Anwesenden peinlich war. In der darauf folgenden Stille war die kleine Schockwelle fast hörbar. Alle bemühten sich geflissentlich, einander nicht in die Augen zu blicken.
Dann ergriff Mrs. Burbridge das Wort. »Wir sind doch wohl nicht hier, um uns gegenseitig Alibis zu verschaffen? Bei Selbstmord braucht man doch kein Alibi.«
Jago schaltete sich ein. »Und bei Selbstmord wird auch kein Topbulle von Scotland Yard per Hubschrauber eingeflogen. Was stört Sie eigentlich an unserer Polizei hier? Ich schätze, die wären durchaus in der Lage, einen Selbstmord zu untersuchen.« Er stockte und fügte hinzu: »Und auch einen Mord.«
Alle Augen richteten sich auf Dalgliesh. Er erwiderte: »Niemand stellt die Fähigkeiten der hiesigen Polizei in Frage. Ich bin mit Einverständnis der zuständigen Kollegen hier. Wie bei allen Polizeieinheiten herrscht auch bei ihnen Personalknappheit. Und es ist wichtig, dass diese Angelegenheit ohne öffentliches Aufsehen möglichst schnell geklärt wird. Im Augenblick untersuche ich lediglich einen ungeklärten Todesfall.«

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rs. Burbridge sagte sanft: »Aber Mr. Oliver war ein bedeutender Mann, ein berühmter Schriftsteller. Man munkelt sogar, dass er den Nobelpreis bekommen sollte. Sie können seinen Tod nicht geheim halten, nicht bei ihm.«
Dalgliesh nickte. »Wir halten ihn auch nicht geheim, wir versuchen nur, die Umstände zu klären. Mr. Olivers Verlag ist bereits verständigt worden, und wahrscheinlich wird die Nachricht heute im Fernsehen und im Radio gesendet und erscheint dann morgen in den Zeitungen. Kein Journalist erhält die Erlaubnis, die Insel zu betreten, und alle Anfragen werden von der Öffentlichkeitsabteilung der Metropolitan Police in London beantwortet werden.«

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aycroft warf Dalgliesh einen Blick zu und sagte dann wie auf Stichwort: »Es wird in jedem Fall Spekulationen geben, aber ich hoffe, dass keiner von Ihnen dem Vorschub leistet, indem er mit der Außenwelt Kontakt aufnimmt. Männer und Frauen in verantwortlichen Positionen kommen hierher, um Ruhe und Frieden zu finden. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.08.2006