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Der Kaffee, den Miranda einschenkte - und den er nicht gebraucht hatte -, war vorzüglich. Nach dem Kaffee, den Dalgliesh und Kate rasch tranken, schien die Befragung wie selbstverständlich beendet. Tremlett erhob sich und stolperte aus dem Raum, und Miranda Oliver brachte Dalgliesh und Kate zur Tür, um sie behutsam hinter ihnen zu schließen.
Sie gingen zum Combe House. Nach einem Moment des Schweigens sagte Dalgliesh: »Miss Oliver hat sich wirklich alle Möglichkeiten offen gehalten, nicht war? Da beteuert sie felsenfest, dass ihr Vater sich nie und nimmer umgebracht haben kann, nachdem sie zuvor die Gründe aufgezählt hat, warum genau das durchaus möglich wäre. Tremlett ist bestürzt und entsetzt, während sie selbst sich völlig unter Kontrolle hat. Es liegt auf der Hand, wer von beiden der dominante Partner ist. Meinen Sie, Tremlett hat gelogen?«
»Nein, Sir, aber sie vielleicht. Ich meine, dieses ganze Gerede von der Verlobung, Daddy liebt mich, Daddy hat seinem kleinen Mädchen alles Glück der Welt gewünscht, hört sich das nach dem Nathan Oliver an, den wir kennen?«
»Wir kennen ihn nicht, Kate. Wir wissen nur das, was andere uns erzählt haben.«
»Nun, die ganze Geschichte mit der Verlobung ist mir von vornherein komisch vorgekommen. Zuerst hab ich mich gefragt, warum sie nicht beide zusammen mit Oliver gesprochen haben, und warum Tremlett ihm so bewusst aus dem Weg gegangen ist, nachdem Oliver die Neuigkeit erfahren hatte. Dann hab ich mir gedacht, dass das vielleicht doch nicht so seltsam war. Möglicherweise wollte Miranda allein mit ihrem Vater sprechen, ihm ihre Gefühle erklären und die Zukunftspläne erläutern. Und falls er ausfallend wurde, hat sie Tremlett vielleicht nichts davon erzählt. Sie könnte ihm weisgemacht haben, dass Oliver sich über die Heiratspläne gefreut hat.« Sie überlegte einen Moment und setzte dann hinzu: »Aber was hätte sie davon gehabt. Er hätte spätestens am nächsten Morgen die Wahrheit erfahren, wenn er zur Arbeit gekommen wäre und Daddy ihm gesagt hätte, was Sache ist.«
Dalgliesh nickte. »Ja, das stimmt. Es sei denn, Miranda konnte davon ausgehen, dass Daddy am nächsten Morgen nicht mehr da wäre, um das zu tun.«

8
Nachmittags um vier hatten Dalgliesh und seine Leute ihre Schlüssel in Empfang genommen, darunter auch die zum Seiteneingang von Combe House, und sich in ihren Unterkünften eingerichtet, Dalgliesh im Seal Cottage und Kate und Benton in benachbarten Wohnungen im Stallgebäude. Dalgliesh beschloss, Emily Holcombe von Kate und Benton befragen zu lassen, zumindest beim ersten Mal. Als Letzte ihrer Familie und älteste Inselbewohnerin konnte sie ihm wahrscheinlich mehr über die Insulaner erzählen als jeder andere, und eigentlich freute er sich darauf, mit ihr zu reden. Doch das Gespräch hatte Zeit, und er, nicht sie, würde es zu kontrollieren suchen. Darüber hinaus war es wichtig, dass alle Verdächtigen Kate und Benton anerkannten.

E
r kehrte zum Büro zurück, um einige verwaltungstechnische Details zu klären, und er war ein wenig verwundert über Maycrofts offensichtliche Gelassenheit ob der Tatsache, dass Dr. Speidel sich noch immer nicht gemeldet hatte. Offenbar überwog für Maycroft der Grundsatz, die Gäste möglichst ungestört zu lassen. Dr. Speidel war zum Zeitpunkt des Mordes auf Combe Island gewesen; früher oder später würde er aus seiner selbst gewählten Einsamkeit herausgeholt werden müssen.
Als Dalgliesh eintraf, war Maycroft allein im Büro, aber nur Augenblicke später steckte Adrian Boyde den Kopf zur Tür herein. »Dr. Speidel ist da. Als Sie vorhin angerufen haben, war er nicht spazieren, sondern hat geschlafen, und er hat die Nachricht erst nach drei abgehört.«
»Führen Sie ihn bitte herein, Adrian. Weiß er von Nathan Oliver?«
»Das glaube ich nicht. Ich bin ihm begegnet, als er gerade zur Hintertür hereinkam. Und ich habe ihm nichts erzählt.«
»Gut. Bitten Sie doch Mrs. Plunkett, uns Tee zu bringen, ja? In etwa zehn Minuten. Wo ist Dr. Speidel jetzt?«
»Er sitzt in der Eingangshalle, auf der Eichenbank. Er sieht gar nicht gut aus.«
»Wir hätten auch zu ihm gehen können, wenn er Bescheid gesagt hätte. Warum hat er sich nicht den Wagen kommen lassen? Es ist ziemlich weit vom Shearwater Cottage.«
»Das habe ich ihn auch gefragt. Er hat gemeint, er dachte, der Spaziergang würde ihm gut tun.«
»Sagen Sie ihm, wir werden seine Zeit nicht lange in Anspruch nehmen.« Maycroft sah Dalgliesh an. »Er ist Mittwoch angekommen, und er ist zum ersten Mal auf der Insel. Ich glaube kaum, dass er Ihnen viel Nützliches erzählen kann.«
Boyde verschwand. Sie warteten schweigend. Die Tür ging auf, und Boyde sagte: »Dr. Speidel«, als würde er feierlich einen wichtigen Besucher ankündigen.

D
algliesh und Maycroft standen auf. Dr. Speidel schaute Dalgliesh fragend an und wirkte einen Moment verunsichert, als überlegte er, ob er diesen Mann kennen müsste. Maycroft wartete noch mit der Vorstellung. Vielleicht hatte er das Gefühl, dass seine Position hinter dem Schreibtisch eine unangemessene und sogar leicht einschüchternde Förmlichkeit vermittelte, jedenfalls bedeutete er Speidel, in einem der Sessel vor dem Kamin Platz zu nehmen, ehe er sich ihm gegenüber niederließ. Der Mann sah wirklich krank aus. Sein attraktives Gesicht mit der unverkennbaren Aura der Macht war gerötet und verschwitzt, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Vielleicht war er für den milden Tag zu warm angezogen. Die schwere Hose, der dicke, wollene Rollkragenpullover, die Lederjacke und der Schal wären für den Winter passender gewesen als für diesen milden Herbstnachmittag. Dalgliesh drehte seinen Stuhl herum, wartete aber, bis er vorgestellt worden war, ehe er sich setzte.
Maycroft sagte: »Das ist Commander Dalgliesh, ein Polizeibeamter von New Scotland Yard. Er ist hier, weil etwas Tragisches geschehen ist. Deshalb sah ich mich auch gezwungen, Sie zu stören. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Nathan Oliver tot ist. Wir haben heute Morgen um zehn Uhr seine Leiche entdeckt. Sie hing an einem Seil, das am Geländer oben auf dem Leuchtturm befestigt war.«

S
peidels Reaktion war verblüffend: Er erhob sich aus seinem Sessel und schüttelte Dalgliesh die Hand. Trotz des geröteten Gesichts war die Hand erschreckend kalt und fest. Während er sich wieder setzte und langsam den Schal abwickelte, schien er zu überlegen, was er als Nächstes sagen sollte. Als er schließlich sprach, verriet nur ein ganz leichter Akzent, dass er Ausländer war. »Das ist eine Tragödie für seine Familie, seine Freunde und für die Literatur. Er genoss hohes Ansehen in Deutschland, vor allem die Romane aus seiner mittleren Phase. Soll das heißen, dass er Selbstmord begangen hat?«
Maycroft blickte zu Dalgliesh hinüber und überließ ihm die Antwort. »Es sieht ganz so aus, aber es gibt noch einige offene Fragen. Natürlich wäre es wünschenswert, diese zu klären und das möglichst, bevor die Medien die Nachricht bringen.«

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aycroft schaltete sich ein. »Da darf nichts im Dunkeln bleiben. Ein solcher Todesfall weckt zwangsläufig internationales Interesse und wird große Bestürzung auslösen. Der Stiftungsrat hofft auf eine rasche Klärung, damit das Leben auf der Insel nicht allzu lange beeinträchtigt wird.« Er stockte, und einen Moment lang schien es, als bedauere er seine Äußerung. »Natürlich beeinträchtigt die Tragödie weit mehr als nur den Frieden auf Combe, doch im Interesse aller, einschließlich der Familie von Mr. Oliver, sollten die Fakten möglichst schnell geklärt werden, um Gerüchten und Spekulationen entgegenzuwirken.«

D
algliesh fuhr fort: »Ich habe zunächst einmal alle gefragt, ob jemand Mr. Oliver irgendwann nach dem Dinner gestern Abend und vor allem heute am frühen Morgen gesehen hat. Es wäre hilfreich, wenn wir uns ein ungefähres Bild machen könnten, in welcher psychischen Verfassung er sich befand, und schon mal eine Vorstellung vom Zeitpunkt seines Todes hätten.«
Speidels Antwort wurde von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen. Dann starrte er einige Sekunden geistesabwesend auf seine gefalteten Hände im Schoß. Die Stille hielt übermäßig lange an. Dalgliesh dachte, dass das wohl kaum ein Zeichen der Trauer um einen Mann sein konnte, den er offenbar gar nicht persönlich gekannt hatte, schließlich hatte er als erste Reaktion nur recht emotionslose, konventionelle Worte der Betroffenheit gefunden. Auch war es alles andere als einleuchtend, dass Dalglieshs einfache Frage ein so langes Nachdenken erforderte. Er fragte sich, ob der Mann ernsthaft krank war. Der Husten war offensichtlich schmerzhaft gewesen. Speidel hustete erneut in sein Taschentuch, und diesmal dauerte der Anfall noch länger. Vielleicht war das Schweigen nichts weiter gewesen als der Versuch, den Husten zu unterdrücken.
Schließlich blickte Dr. Speidel auf und sagte: »Bitte entschuldigen Sie, der Husten ist lästig. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.09.2006