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Die Formulierung war unglücklich gewählt. Miranda Olivers Gesicht rötete sich, und sie fauchte ihre Antwort zwischen gepressten Lippen hervor. »Ich habe ihn nicht konfrontiert. Ich bin seine Tochter. Es gab keine Konfrontation. Ich habe ihm die Neuigkeit erzählt, und er hat sich darüber gefreut, zumindest dachte ich das.«
Kate wandte sich an Dennis Tremlett. »Haben Sie mit Mr. Oliver gesprochen, nachdem Ihre Verlobte ihm die Neuigkeit beigebracht hatte?«
Tremlett blinzelte, als müsste er Tränen zurückhalten, und es fiel ihm offensichtlich schwer, ihr in die Augen zu blicken. »Nein, es gab keine Gelegenheit mehr dazu. Er war zum Dinner drüben im Haus und kam erst zurück, als ich bereits fort war. Heute Morgen hatte er das Cottage bereits verlassen. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.« Seine Stimme zitterte.

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ate wandte sich an Miranda Oliver. »Wie ging es Ihrem Vater seit Ihrer Ankunft auf der Insel? Wirkte er niedergeschlagen, bedrückt, irgendwie verändert?«
»Er war sehr still. Ich weiß, dass er Angst vor dem Älterwerden hatte, Angst davor, sein Talent könnte versiegen. Er hat sich nie dahingehend geäußert, aber ich kannte ihn sehr gut. Ich habe gespürt, dass er unglücklich war.« Sie schaute Tremlett auffordernd an. »Du hast das doch auch gespürt, nicht, Darling?«
Das Kosewort kam so unerwartet, dass es irgendwie schockierend wirkte. Dabei klang es eigentümlich gehemmt, wie ein frisch erworbenes, noch nicht vertrautes Wort, weniger eine verbale Liebkosung als vielmehr eine leicht trotzige Behauptung. Tremlett schien es nicht wahrzunehmen.
Er wandte sich an Dalgliesh und sagte: »Er hat sich mir nicht oft anvertraut, so ein Verhältnis hatten wir eigentlich nicht zueinander. Ich war nur sein Lektor und sein Sekretär. Dass er bedrückt war, weil sein letztes Buch nicht so gut angenommen wurde wie die vorherigen, ist mir natürlich aufgefallen. Gewiss, er war schon lange arriviert, und die Rezensenten behandelten ihn immer mit Respekt. Doch er selbst war nicht zufrieden. Das Schreiben dauerte länger, und er fand die Worte nicht mehr so leicht. Aber er war noch immer ein wunderbarer Autor.« Seine Stimme brach.

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iranda Oliver ergriff wieder das Wort: »Sie werden bestimmt von Mr. Maycroft und Dr. Staveley und den anderen hören, dass mein Vater ein schwieriger Mensch war. Er hatte auch allen Grund dazu. Er wurde auf der Insel geboren, und laut Stiftungsvertrag konnte er sich hier aufhalten, wann und so lange er wollte. Man hätte ihm Atlantic Cottage geben müssen. Er brauchte es für seine Arbeit, und er hatte ein Anrecht darauf. Emily Holcombe hätte problemlos umziehen können, aber sie wollte nicht. Und außerdem gab es zu Anfang Schwierigkeiten, weil Daddy unbedingt Dennis und mich hier bei sich haben wollte. Normalerweise kommen Gäste ohne Anhang. Vater war allerdings der Meinung, wenn man Emily Holcombe erlaubt hatte, Roughtwood mitzubringen, dann konnten Dennis und ich ihn auch begleiten. Anders wäre es sowieso nicht gegangen; er brauchte uns. Mr. Maycroft und Emily Holcombe haben hier das Sagen. Sie scheinen einfach nicht zu begreifen, dass Daddy ein großer Schriftsteller ist - war. Alberne kleine Regeln galten für ihn nicht.«

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algliesh fragte: »Glauben Sie, seine Depressionen könnten so schwerwiegend gewesen sein, dass er sich das Leben genommen hat? Verzeihen Sie, aber ich muss diese Frage stellen.«
Miranda sah zu Dennis Tremlett hinüber, als hätte die Frage eigentlich an ihn gerichtet werden müssen und nicht an sie. Tremlett saß stocksteif da, hielt die Augen auf seine gefalteten Hände gerichtet und erwiderte ihren Blick nicht. Da sagte sie: »Das ist eine furchtbare Unterstellung, Commander. Mein Vater war kein Mensch, der sich umbringt, und wenn doch, dann hätte er es nicht auf diese grauenhafte Art und Weise getan. Hässlichkeit stieß ihn ab, und Erhängen ist hässlich. Er hatte alles, wofür es sich zu leben lohnt. Ruhm, Sicherheit und sein Talent. Und er hatte mich. Ich habe ihn geliebt.«
An dieser Stelle schaltete sich Kate ein. Sie war niemals gefühllos und nur selten unhöflich, aber sie ließ sich auch nicht durch übertriebene Zurückhaltung daran hindern, eine direkte Frage zu stellen. »Vielleicht hat ihn Ihre Entscheidung zu heiraten doch mehr verstört, als er zugeben wollte. Immerhin hätte das sein Leben gründlich durcheinander gebracht. Falls er andere Sorgen hatte, die er Ihnen nicht anvertraute, könnte das der Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

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iranda starrte sie an, hochrot im Gesicht. Als sie sprach, klang ihre Stimme nur mühsam beherrscht. »Was Sie da andeuten ist furchtbar. Das würde praktisch heißen, dass Dennis und ich für Daddys Tod verantwortlich sind. Das ist grausam und noch dazu einfach lächerlich. Meinen Sie, ich hätte meinen Vater nicht gekannt? Ich habe bei ihm gelebt, seit ich die Schule verlassen habe, und ich habe mich um ihn gekümmert, dafür gesorgt, dass er ein behagliches Leben hatte, ich habe seinem Talent gedient.«
Dalgliesh sagte freundlich: »Genau das hat Inspector Miskin ja gemeint. Ihnen und Mr. Tremlett war offensichtlich daran gelegen, dass Ihr Vater nicht leiden sollte. Sie wollten ihn weiterhin umsorgen, und Mr. Tremlett wollte weiterhin als sein Sekretär arbeiten. Aber vielleicht hat Ihr Vater nicht erkannt, wie viele Gedanken Sie sich darüber gemacht hatten. Inspector Miskin hat eine nahe liegende Frage gestellt, die weder grausam noch unsensibel war. Wir wissen, dass Ihr Vater gestern Abend, nachdem Sie ihm die Neuigkeit eröffnet hatten, im Haupthaus gegessen hat - was ungewöhnlich war - und dass er zweifellos aufgebracht war. Außerdem hatte er für heute Nachmittag die Barkasse angefordert. Er hat zwar nicht ausdrücklich gesagt, dass er vorhatte, die Insel zu verlassen, aber davon ist wohl auszugehen. Hat er einem von Ihnen erzählt, dass er abreisen wollte?«
Diesmal sahen sie sich an. Dalgliesh merkte deutlich, dass die Frage sowohl überraschend als auch unliebsam war. Einen Moment breitete sich Schweigen aus. Dann sagte Dennis Tremlett: »Anfang der Woche hat er mir gegenüber erwähnt, dass er für einen Tag zum Festland hinüberwollte. Er hat aber nicht gesagt, warum. Ich hatte das Gefühl, er wollte irgendwas recherchieren.«

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ate sagte: »Er hat die Barkasse für nach dem Mittagessen bestellt, damit hätte er keinen ganzen Tag auf dem Festland gehabt. Hat er die Insel bei seinen Besuchen öfter zwischendurch verlassen?«
Wieder herrschte Stille. Falls Tremlett oder Miss Oliver versucht waren zu lügen, so musste ihnen nach kurzer Überlegung klar sein, dass die Polizei es durch einfaches Nachfragen bei Jago Tamlyn überprüfen konnte. Schließlich sagte Tremlett: »Gelegentlich, aber nicht oft. Ich weiß nicht mehr, wann das letzte Mal.«
Dalgliesh spürte eine Veränderung, subtil, aber unverkennbar, in ihrem Frage-und-Antwort-Spiel. Er versuchte es anders. »Hat Ihr Vater mit Ihnen über sein Testament gesprochen? Wissen Sie etwas von irgendwelchen Organisationen, die von seinem Tod profitieren werden?«

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iese Frage war offenbar weniger problematisch, denn Miranda reagierte sofort: »Ich bin sein einziges Kind und natürlich die Haupterbin. Das hat er mir bereits vor einiger Zeit gesagt. Vielleicht hat er auch Dennis etwas hinterlassen, als Dankeschön für seine Dienste in den letzten zwölf Jahren, ich glaube, er hat mal so etwas erwähnt. Außerdem hat er mir erzählt, dass er der Combe-Island-Stiftung zwei Millionen Pfund vermacht hat. Von dem Geld soll unter anderem ein weiteres Cottage gebaut werden, das dann nach ihm benannt werden soll. Ich weiß nicht, ob er in letzter Zeit sein Testament geändert hat. Falls ja, hat er mir nichts davon gesagt. Ich weiß, dass er immer ärgerlicher wurde, weil der Stiftungsrat nicht bereit war, ihm Atlantic Cottage zur Verfügung zu stellen. Ich vermute, das geschah auf Anraten von Mr. Maycroft. Niemand hier hat auch nur annähernd eine Ahnung davon, was dieses Cottage meinem Vater bedeutete. Für Daddy war es äußerst wichtig, wo er arbeitet, und dieses Haus hier eignet sich wirklich nicht dafür. Zugegeben, anders als die meisten Cottages hat es zwei Schlafzimmer, aber ich habe mich hier nie zu Hause gefühlt. Mr. Maycroft und Emily Holcombe haben einfach nicht begriffen, dass mein Vater einer der größten Schriftsteller Englands war, und für seine Arbeit brauchte er nun mal ein gewisses Umfeld: das richtige Haus, die richtige Aussicht, genug Platz und Abgeschiedenheit. Er wollte Atlantic Cottage haben, und das hätte problemlos arrangiert werden können. Falls er die Stiftung aus seinem Testament gestrichen hat, würde mich das freuen.«
Kate fragte: »Wann genau haben Sie Ihrem Vater von der Verlobung erzählt?«
»Gestern so gegen fünf Uhr nachmittags, vielleicht auch ein bisschen später. Dennis und ich hatten einen Spaziergang über die Klippe gemacht, und ich bin allein nach Hause gekommen. Daddy war hier und las, und ich habe ihm Tee gemacht und es ihm dann verraten. Er hat sehr lieb reagiert, aber nicht viel dazu gesagt, außer, dass er sich für uns freuen würde und sich schon so was gedacht habe. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.08.2006