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Sie hatte einen Termin für ihre jährliche Grippeschutzimpfung. Adrian Boyde und Dennis Tremlett waren losgezogen, um die Ostseite der Insel abzusuchen, und Roughtwood hatte gesagt, er hätte zu viel um die Ohren, um uns helfen zu können. Im Grunde ist die Suche gar nicht richtig in Gang gekommen. Kaum waren wir vor dem Haus, da kam Nebel auf, und bis er sich wieder verzog, hätte es nicht viel gebracht, weiter als bis zum Leuchtturm zu gehen. Normalerweise löst er sich auf Combe recht schnell wieder auf.«
»Und Sie waren der Erste, der die Leiche entdeckte?«
»Ja, aber Dan Padgett war direkt hinter mir.«
»Was hat Sie auf die Idee gebracht, Nathan Oliver könnte im Leuchtturm oder irgendwo in der Nähe sein? Kam er öfter hierher?«
»Ich glaube nicht. Auf der Insel geht es allerdings in erster Linie darum, dass die Gäste ihre Ruhe haben. Wir behalten sie also nicht im Auge. Nun, der Leuchtturm war in der Nähe, und es bot sich an, zuerst dort nachzuschauen. Die Tür war nicht verschlossen, also bin ich in den ersten Stock hochgegangen und habe dann die Treppe hinaufgerufen. Ich dachte, er hätte mich hören müssen, wenn er da gewesen wäre. Warum ich anschließend um den Turm herumgegangen bin, kann ich nicht sagen. In dem Augenblick kam es mir ganz nahe liegend vor. Jedenfalls war der Nebel inzwischen ganz schön dicht, und es erschien mir sinnlos, weiter zu suchen. Gerade als ich auf der Seeseite ankam, klarte es plötzlich auf, und ich sah die Leiche. Millie und Jago tauchten aus Richtung Hafen auf, und als sie um den Turm herumbogen, fing Millie an zu schreien. Daraufhin eilten Guy und Miss Holcombe herbei.«
»Und das Seil?«

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taveley übernahm die Antwort: »Als wir sahen, dass Jago den Körper aufgefangen und auf den Pfad gelegt hatte, sind wir beide sofort nach unten gegangen. Dan stand nur da. Jago kniete neben der Leiche und sagte: ÝEr ist tot, Sir. Wiederbelebungsversuche wären sinnlos.Ü Das Seil um Olivers Hals hatte er gelockert und die Schlinge über den Kopf gezogen.«

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aycroft ergänzte: »Ich habe Jago und Dan dann losgeschickt, eine Trage und ein Laken zu holen. Guy und ich haben schweigend hier gewartet. Ich glaube, wir haben uns von Oliver abgewendet und aufs Meer geschaut, ich für meinen Teil habe das jedenfalls getan. Wir hatten nichts da, um ihn zuzudecken, und ich fand es irgendwie, na ja, ungehörig, in sein verzerrtes Gesicht zu starren. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis Jago und Dan zurückkamen. In der Zwischenzeit war Roughtwood zu uns gestoßen. Miss Holcombe hatte ihn wie angekündigt geschickt. Er half Dan und Jago, den Toten auf die Trage zu betten. Wir sind dann zum Haus, Dan und Roughtwood haben die Trage gerollt, Guy und ich sind rechts und links nebenher gegangen. Ich habe Jago zugerufen: ÝHeben Sie bitte das Seil auf und bringen Sie es zurück in den Leuchtturm. Aber fassen Sie nicht den Knoten oder die Schlinge an. Es wird eine Untersuchung geben, und das Seil könnte ein Beweismittel sein.Ü«
Dalgliesh fragte: »Haben Sie nicht daran gedacht, das Seil mitzunehmen?«

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ozu? Wir dachten doch alle, wir hätten es mit einem Selbstmord zu tun. Das Seil hätte nicht in meine Schreibtischschublade gepasst, und im Leuchtturm war es so gut aufgehoben wie überall sonst. Ehrlich gesagt, ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass dem nicht so sein könnte. Und was hätte ich sonst vernünftigerweise damit machen sollen? Es war einfach ein grausiger Gegenstand für mich. Da war es besser, ihn den Augen der Allgemeinheit zu entziehen.«

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ber das Seil war nicht dem Zugriff der Allgemeinheit entzogen worden. Da die Tür unverschlossen war, konnte jeder auf der Insel an das Seil heran. Je mehr Menschen das Seil und den Knoten berührt hatten, desto schwieriger würde festzustellen sein, wer erst den Palstek gebunden und dann sicherheitshalber noch die zwei halben Schläge hinzugefügt hatte. Er würde mit Jago Tamlyn sprechen müssen. Schließlich musste er von Mord ausgehen, und Jago war der Einzige, der ihm sagen konnte, wann und wie das Seil wieder an Ort und Stelle gelangt war. Es wäre besser gewesen, Jago hätte sie hierher begleitet, aber Dalgliesh hatte vermeiden wollen, dass mehr Menschen als unbedingt nötig am Tatort herumliefen oder er die Ermittlung in dieser Phase verkomplizierte, indem er, wie indirekt auch immer, seine Überlegungen zu erkennen gab. Er sagte: »Ich denke, das ist im Augenblick erst mal alles. Vielen Dank.«
Schweigend gingen sie hinunter, Guy Staveley so bedächtig wie ein alter Mann. Und dann waren sie erneut im Eingangsraum. Dem locker aufgerollten, blau und rot gewirkten Seil mit der kleinen herabhängenden Schlinge schien in Dalglieshs Augen nunmehr eine unheilschwangere Macht innezuwohnen. Diese Reaktion hatte er schon früher bei sich erlebt, wenn er eine Mordwaffe betrachtete: die Alltäglichkeit von Stahl, Holz und Schlinge - und ihre entsetzliche Macht. In stillschweigendem Einverständnis blieben alle stehen und betrachteten das Seil.
Dalgliesh wandte sich an Maycroft. »Ich würde gern kurz mit Jago Tamlyn sprechen, ehe ich mit den anderen Bewohnern rede. Könnte er schnell benachrichtigt werden?«

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aycroft und Staveley sahen einander an. Staveley antwortete: »Vielleicht ist er auch im Haus. Die meisten sind jetzt bestimmt in der Bibliothek, aber Jago wird nicht die ganze Zeit warten wollen. Könnte sein, dass er noch auf der Barkasse ist. Wenn ja, kann ich ihn raufwinken.«
Dalgliesh drehte sich zu Benton-Smith um. »Holen Sie ihn bitte her, Sergeant.«
Die Röte, die Staveley ins Gesicht stieg, blieb Dalgliesh nicht verborgen. Er konnte sich vorstellen, was der Mann denken musste. Wollte Dalgliesh dafür sorgen, dass er keine Zeit mehr hatte, Jago noch vor dieser ersten Begegnung mit dem Commander zu warnen oder ihn auf den neusten Stand zu bringen?
Benton-Smith sagte: »Ja, Sir«, und verschwand schnell um den Leuchtturm herum. Er würde am Klippenrand entlang zum Hafen laufen. Das Warten erschien ihnen endlos, doch es konnten kaum fünf Minuten vergangen sein, da hörten sie Schritte auf den Steinen und zwei Gestalten bogen um die Wölbung des Leuchtturms.

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s näherte sich ihnen der Beobachter, den sie auf dem Kai vom Hubschrauber aus gesehen hatten. Dalglieshs erstem Eindruck nach ein selbstsicherer, attraktiver Mann. Jago Tamlyn war klein - Dalgliesh schätzte ihn auf unter ein Meter siebzig -, aber kräftig gebaut, und seine Untersetztheit wurde durch den dicken dunkelblauen Seemannspullover mit dem komplizierten Muster noch betont. Darunter trug er eine Kordhose, die in hohen schwarzen Gummistiefeln steckte. Er war ein dunkler Typ, hatte ein längliches markantes Gesicht, lockige zerzauste Haare und einen kurzen Bart, und unter der zerfurchten Stirn hoben sich die klaren, eng zusammenstehenden Augen saphirblau von der sonnenverbrannten Haut ab. Er musterte Dalgliesh mit einem langen, argwöhnisch forschenden Blick, der unter Dalglieshs starrer Erwiderung schnell in die leidenschaftslose Ergebenheit eines Soldaten mit Arrest umschlug. Es war ein Gesicht, das nichts preisgab.
Maycroft stellte Dalgliesh und Kate mit ihrem Dienstrang und vollem Namen vor, so steif und förmlich, dass man meinen konnte, sie sollten einander die Hand schütteln. Was keiner tat. Jago nickte und schwieg.

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algliesh führte die Gruppe um den Leuchtturm herum zur Seeseite. Er kam gleich zur Sache. »Ich möchte gerne von Ihnen hören, was von dem Zeitpunkt an, als Sie zu dem Suchtrupp hinzugestoßen sind, genau passiert ist.«
Jago schwieg etwa fünf Sekunden. Dalgliesh hielt es für unwahrscheinlich, dass er die Zeit brauchte, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Als der Bootsmann schließlich sprach, war seine Schilderung jedoch flüssig und frei von jeder Unsicherheit.

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r. Boyde hat mich vom Büro aus angerufen, um mir zu sagen, dass Mr. Oliver nicht wie vereinbart in der Praxis erschienen war, und mich gebeten, bei der Suche nach ihm zu helfen. Da kam rasch Nebel auf, und ich fand es in dem Moment eigentlich sinnlos, nach Mr. Oliver zu suchen, aber ich bin trotzdem den Pfad vom Hafen hochgegangen. Millie Tranter war im Cottage und rannte hinter mir her. Als wir in Sichtweite des Leuchtturms waren, lichtete sich der Nebel plötzlich, und wir sahen die Leiche. Mr. Maycroft war da, und Dan Padgett auch. Dan hat gezittert und gewimmert. Millie hat angefangen zu schreien, und dann sind Dr. Staveley und Miss Holcombe um den Leuchtturm herumgekommen. Mr. Maycroft, Dr. Staveley und ich sind reingegangen und nach oben auf die Galerie. Wir haben angefangen, den Körper hochzuziehen, und dann hat Dr. Staveley gesagt, wir sollten ihn besser runterlassen. Wir haben das Seil um die oberste Geländersprosse geschlungen, um ihn kontrolliert runterlassen zu können. Mr. Maycroft hat gesagt, ich sollte unten den Körper auffangen, und das hab ich auch getan. Als ich ihn halten konnte, haben Mr. Maycroft und Dr. Staveley das Seil fallen lassen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.08.2006