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Wer hat das Seil aufgewickelt und wieder an den Haken gehängt?«
Maycroft sagte: »Das war Jago Tamlyn. Als wir uns mit der Trage Richtung Haus in Bewegung setzten. Ich hab ihm zugerufen, er solle sich um das Seil kümmern. Und gesagt, er solle es wieder zu den anderen an den Haken hängen.«
Und da die Tür unverschlossen war, konnte jeder an das Seil, der sich irgendwie daran zu schaffen machen wollte. Es würde ins Labor geschickt werden, in der Hoffnung, dass man daran vielleicht, wenn schon keine Fingerabdrücke, so wenigstens DNA von verschwitzten Händen finden könnte. Doch jeder Beweis, selbst wenn er jemandem zugeordnet werden könnte, war schon jetzt wertlos geworden.
Er sagte: »Wir werden zur Galerie hochgehen. Ich möchte wissen, was genau von dem Moment an passiert ist, als Oliver vermisst wurde.«
Sie setzten sich im Gänsemarsch in Bewegung und stiegen die hölzerne Wendeltreppe hinauf, die an der Wand entlanglief. Ein Raum folgte auf den nächsten, immer kleiner, jeder sorgfältig restauriert.

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aycroft bemerkte Bentons offensichtliches Interesse und lieferte ihnen auf dem Weg nach oben eine kurze Einführung. »Wie Sie gesehen haben, dient das Erdgeschoss inzwischen hauptsächlich als Lagerraum für Jagos Kletterausrüstung. In der Truhe sind Kletterschuhe, Handschuhe, die Schlingen, Karabiner, Haken und Gurte und so weiter. Ursprünglich wurde in dem Raum Wasser gespeichert, das nach oben gepumpt und erwärmt werden musste, wenn der Leuchtturmwärter ein Bad nehmen wollte.
Jetzt kommen wir in den Raum, wo der Strom erzeugt und die Werkzeuge aufbewahrt wurden. Als Nächstes haben wir den Brennstofflagerraum mit dem Öltank, und dann folgt ein Lagerraum für die Konserven. Heutzutage haben Leuchttürme Kühl- und Gefrierschränke, doch damals ernährten sich die Wärter fast ausschließlich von Dosennahrung. Jetzt gelangen wir in den Raum mit der Seilwinde und zum Batterieraum. Mit Batterien wird die Laterne in Gang gehalten, wenn einmal der Generator ausfallen sollte. Hier gibt es wenig zu sehen, ich denke, der Wohnraum ist interessanter. Hier haben die Wärter auf einem Kohleofen oder auf einem mit Gaskartuschen betriebenen Herd gekocht und gegessen.«

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ußer Maycroft sagte niemand etwas, während sie weiter nach oben stiegen. Jetzt gelangten sie ins Schlafzimmer. Der kreisrunde Raum bot gerade Platz für zwei schmale Etagenbetten mit Stauraum darunter. Auf den Betten lagen identische karierte Decken. Dalgliesh hob eine leicht an und fand darunter nur die harte Matratze. Die Decken waren glatt über die Matratzen gespannt, und es schien offensichtlich niemand darauf gelegen zu haben. Der Restaurator des Turms hatte wohl versucht, eine wohnliche Atmosphäre zu schaffen und deshalb Fotos der Wärter sowie zwei kleine runde Keramiktafeln mit frommen Sprüchen aufgehängt - Gesegnet sei dieses Haus und Er sprach zum Meer: Schweig und verstumme! Nur hier in diesem Zimmer gewann Dalgliesh einen Eindruck davon, wie diese längst verstorbenen Menschen gelebt haben mussten.

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er Betriebsraum war ausgestattet mit dem Modell eines Funktelefons, einem Barometer und einem Thermometer und an der Wand lehnte ein Klappstuhl. Dort hing eine große Karte von den Britischen Inseln. An ihr vorbei ging es weiter eine gewundene, enge Treppe hinauf.
Maycroft erklärte weiter: »Manche unserer Gäste nehmen sich gern einen Klappstuhl mit hinaus auf die Plattform rund um die Laterne. Dort hat man nicht nur die schönste Aussicht auf die Insel, sondern kann völlig ungestört lesen. Über diese Treppe kommen wir zur Laterne und durch eine Tür hinaus auf die Galerie.«

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n keinem der bisherigen Räume hatte ein Fenster offen gestanden. Die Luft war zwar nicht übel riechend, aber doch muffig gewesen, und die allmählich kleiner werdenden Räume hatten ein unangenehm klaustrophobisches Gefühl erzeugt. Jetzt atmete Dalgliesh würzige Seeluft, so frisch, dass er sich fühlte wie ein in die Freiheit entlassener Gefangener. Die Aussicht war spektakulär: Unter ihnen erstreckte sich die gesamte Insel, die gedämpften Grün- und Brauntöne der niedrigen Vegetation in der Mitte des Eilandes bildeten einen schroffen Kontrast zu dem leuchtenden Granit der Klippen und dem schimmernden Meer. Sie folgten dem Halbrund zur Seeseite. Die hellen Wellenkämme zogen sich bis zum Horizont, als hätte eine Riesenhand über dem unendlichen Blau einen Pinsel mit weißer Farbe geschwungen. Ein launenhafter Wind schlug ihnen entgegen, der in dieser Höhe mitunter die Kraft einer starken Bö hatte, und instinktiv umklammerten alle fünf das Geländer. Dalgliesh beobachtete, dass auch Kate gierig die frische Luft einsaugte, als wäre sie lange eingesperrt gewesen. Dann legte sich der Wind, und es kam ihm so vor, als würde das weiß schäumende rastlose Meer im selben Moment ruhiger.
Er blickte nach unten. Auf der Seeseite gab es dort nichts als ein paar Quadratmeter gepflasterten Boden, begrenzt von einer unregelmäßigen Bruchsteinmauer. Dahinter kam nur noch nackter Fels, der in glänzenden Gesteinskaskaden zum Meer hin abfiel. Er beugte sich über das Geländer, und ein Gefühl des Schwindels durchfuhr ihn. Was für eine bodenlose Verzweiflung oder welch vernichtender Wahn konnte einen Menschen dazu bringen, sich in diese Unendlichkeit zu stürzen? Und wieso sollte er sich für das entwürdigende Grauen eines Todes durch Erhängen entscheiden? Warum nicht einfach ins Nichts springen?
Dalgliesh fragte: »Wo genau war das Seil befestigt?«

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ieder war es Maycroft, der die Initiative ergriff. »Ich glaube, er muss von ungefähr dieser Stelle aus gestürzt sein. Er hing etwa dreieinhalb bis vier Meter tief, genauer kann ich das nicht sagen. Er hatte das Seil am Geländer befestigt, indem er es zwischen den Streben durchgefädelt und dann obendrüber geworfen hatte. Der Rest des Seils lag einfach hier lose auf dem Boden.«

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algliesh kommentierte das nicht weiter. Eine Diskussion mit seinen Mitarbeitern war unmöglich, solange Maycroft und Staveley dabei waren, und würde warten müssen. Er wünschte, er hätte mit eigenen Augen sehen können, wie das Seil am Geländer befestigt gewesen war. Das musste einige Zeit in Anspruch genommen haben, und der Täter, ob nun Oliver oder jemand anderes, hatte die Länge des Seils abschätzen müssen. Er sprach Staveley an. »Haben Sie das auch so in Erinnerung, Doktor?«
»Ja. Normalerweise wären wir wohl zu schockiert gewesen, um auf derartige Einzelheiten zu achten, aber wir mussten das Seil ja vom Geländer lösen, ehe wir den Leichnam hinunterlassen konnten, und das hat ein wenig gedauert. Zuerst haben wir versucht, es zusammengerollt wie es war durchzuschieben, doch schließlich mussten wir das Endstück nehmen und alles mühsam entwirren.«
»Waren Sie beide allein hier oben an der Laterne?«
»Jago ist direkt nach uns gekommen. Wir haben zu dritt angefangen, den Körper hochzuziehen und dann fast gleich wieder damit aufgehört. Es war so furchtbar, den Hals weiter in die Länge zu ziehen. Ich weiß nicht, warum wir es überhaupt versucht haben. Wahrscheinlich nur, weil der Abstand zur Laterne viel kürzer war als zum Boden.«

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aycroft stimmte zu: »Allein die Vorstellung war unerträglich. Ich war für einen Moment richtig in Panik. Ich dachte, wir würden ihm tatsächlich den Kopf abreißen. Das einzig Vernünftige schien uns am Ende, ihn sachte zu Boden zu lassen. Wir haben das Seil gelöst, und Jago hat es um eine Strebe geschlungen, sozusagen als Widerstand. Weil das Seil um das Geländer gelegt war, kamen Guy und ich ganz gut allein zurecht, und ich habe Jago gesagt, er soll runtergehen und den Leichnam in Empfang nehmen.«
Dalgliesh fragte: »Wer war zu dem Zeitpunkt sonst noch da?«
»Nur Dan Padgett. Miss Holcombe und Millie waren gegangen, Roughtwood noch nicht eingetroffen.«
»Was war mit dem übrigen Personal und den Gästen?«

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ch hatte Mrs. Burbridge und Mrs. Plunkett nicht davon unterrichtet, dass Oliver vermisst wurde, deshalb waren sie auch bei der Suche nicht dabei. Dr. Speidel und Dr. Yelland hätte ich nur verständigen können, wenn sie in ihren Cottages gewesen wären, doch ich habe es gar nicht erst versucht. Als Gäste waren sie nicht für Nathan Oliver zuständig. Außerdem wollte ich sie nicht unnötig stören. Später dann, als ich mit London gesprochen hatte und wir erfuhren, dass Sie unterwegs waren, habe ich in den Cottages angerufen, konnte jedoch keinen der beiden erreichen. Wahrscheinlich waren sie irgendwo im Nordwestteil der Insel unterwegs. Ich vermute, das sind sie immer noch.«
»Dann bestand der Suchtrupp also aus Ihnen beiden, Miss Holcombe, Dan Padgett und Millie Tranter?«
»Miss Holcombe und Millie hatte ich nicht um Hilfe gebeten. Millie kam später mit Jago hinzu, und Miss Holcombe war gerade in der Praxis, als Jo mich anrief. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.08.2006