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Er sagte, er habe ohnehin vorgehabt, die Insel zu verlassen, jetzt wo seine Mutter tot sei. Er habe beschlossen, nach London zu gehen und an einer der neueren Universitäten ein Studium aufzunehmen. Er habe sich schon Informationsmaterial zuschicken lassen, und anscheinend schienen seine mittelmäßigen Noten kein Hinderungsgrund zu sein. Ich habe ihm gesagt, dass es klug von ihm sei, Combe zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen. Als er in mein Büro kam, hatte er mit einem Tadel gerechnet, doch als er wieder ging, war er so fröhlich, wie ich das nie zuvor bei ihm erlebt habe. Vielleicht ist fröhlich nicht das richtige Wort - er war in Hochstimmung.«
»Und es gibt niemanden auf der Insel, den man als Olivers Feind bezeichnen könnte? Niemand, der ihn vielleicht dermaßen hasst, dass er ihm den Tod wünscht?«
»Nein. Ich kann noch immer nicht glauben, dass es Mord sein soll. Ich meine, es müsste eine andere Erklärung geben, und ich hoffe, Sie finden sie. In der Zwischenzeit möchten Sie vermutlich, dass keiner die Insel verlässt. Ich denke, ich kann Ihnen versprechen, dass unser Personal kooperativ sein wird, aber ich habe keine Kontrolle über unsere Besucher, Dr. Raimund Speidel, ein deutscher Diplomat und ehemaliger Botschafter in Peking, Dr. Yelland und natürlich Miss Oliver und Dennis Tremlett.«

D
algliesh beruhigte ihn. »Derzeit bin ich nicht befugt, irgendwen am Verlassen der Insel zu hindern. Ich hoffe natürlich, dass alle bleiben. Sollten doch welche abreisen, müssen sie trotzdem vernommen werden können, dann allerdings mit mehr Aufwand und mehr Öffentlichkeit, als wenn sie geblieben wären.«
Maycroft sagte: »Miss Holcombe hat Montagmorgen einen Zahnarzttermin in Newquay. Sonst wird die Barkasse im Hafen bleiben.«
Dalgliesh fragte: »Wie sicher können Sie sein, dass hier niemand unbemerkt anlegen kann?«
»Das ist seit Menschengedenken nicht vorgekommen. Der Hafen ist die einzige sichere Anlegestelle, und Jagos Cottage liegt direkt am Kai. Es sind ständig genug Leute in und um das Haus herum beschäftigt, um eine wenn auch nicht organisierte so doch kontinuierliche Beobachtung zu garantieren. Wie Sie bestimmt gesehen haben, ist die Hafeneinfahrt sehr schmal, und wir haben auf beiden Seiten Lichtschranken. Wenn ein Boot nachts in den Hafen einläuft, gehen die Lichter an. Jagos Cottage liegt, wie gesagt, direkt am Kai, und er schläft mit offenen Vorhängen, so dass er sofort aufwachen würde. Es ist jedoch noch nie vorgekommen. Es gibt wohl zwei Stellen, wo man bei Ebbe von einem Boot aus an Land schwimmen könnte, aber ich wüsste nicht, wie man dann die Klippe ohne einen Helfer auf der Insel hinaufkommen wollte, und selbst dann müssten beide erfahrene Kletterer sein.«
»Gibt es denn auf der Insel einen erfahrenen Kletterer?«
Es war offensichtlich, dass Maycroft nur ungern antwortete. »Jago. Er ist geprüfter Bergsteigerlehrer, und gelegentlich nimmt er Besucher, die er für fähig hält, mit auf eine Kletterpartie. Ich denke, die Möglichkeit, dass wir hier irgendwelche unangemeldeten Besucher haben, können Sie ausschließen. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, ist jedoch praktisch ausgeschlossen.«

U
nd das Problem war nicht nur die unbemerkte Landung auf der Insel. Falls Oliver von jemandem zum Leuchtturm gelockt worden war, der sich heimlich auf die Insel geschlichen und vielleicht über Nacht versteckt gehalten hatte, dann hätte der Mörder wissen müssen, dass der Leuchtturm nicht abgeschlossen sein würde und wo die Kletterseile aufbewahrt wurden. Dalgliesh zweifelte nicht, dass der Mörder unter den Menschen auf Combe zu finden war, doch die Frage, ob jemand heimlich auf die Insel gelangen könnte, hatte gestellt werden müssen. Die Verteidigung würde sie bestimmt aufwerfen, falls jemand angeklagt wurde.
»Ich brauche eine Karte von der Insel, auf der die Cottages und ihre derzeitigen Bewohner verzeichnet sind«, bat Dalgliesh.

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aycroft ging zur Schublade seines Schreibtischs. »Wir haben hier eine Hand voll. Neuankömmlinge müssen sich natürlich erst einmal orientieren können. Ich denke, diese hier zeigen die Gebäude und das Gelände recht genau.«
Er gab Dalgliesh, Kate und Benton-Smith je eine gefaltete Landkarte. Dalgliesh trat an den Schreibtisch, glättete seine Karte, und Kate und Benton stellten sich zu ihm, um sie zu studieren.«
Maycroft sagte: »Ich habe die Namen der derzeitigen Cottage-Bewohner eingetragen. Die Insel ist viereinhalb Meilen lang und erstreckt sich von Nordosten nach Südwesten. Auf der Karte können Sie sehen, dass sie in der Mitte am breitesten ist, etwa zwei Meilen, und sich nach Norden und Süden verjüngt. Ich habe eine Wohnung hier im Haus ebenso wie die Hauswirtschafterin, Mrs. Burbridge, und die Köchin, Mrs. Plunkett. Millie Tranter, die Mrs. Burbridge zur Hand geht, wohnt in den umgebauten Stallungen, das Gleiche gilt für Dennis Tremlett, Mr. Olivers Lektor und Sekretär. Zeitweilige Arbeitskräfte, die auf Wochenbasis vom Festland herüberkommen, werden ebenfalls dort untergebracht. Im Augenblick ist jedoch keiner hier. Im Haus gibt es zwei Wohnungen für Gäste, die lieber nicht in einem der Cottages wohnen möchten, aber die stehen meist leer, wie im Moment auch. Jago Tamlyn, unser Bootsführer, ist auch zuständig für die Wartung des Generators und bewohnt Harbour Cottage im Hafen. Weiter östlich liegt Peregrine Cottage, das im Augenblick von Miss Oliver bewohnt ist. Etwa dreihundert Meter weiter liegt Seal Cottage, das gerade unbewohnt ist und das Sie selbst vielleicht beziehen könnten. Dahinter kommt Chapel Cottage, bewohnt von Adrian Boyde, meinem Sekretär. Es ist nach der kleinen Kapelle benannt, die etwa fünfzig Meter südlich davon steht. Das östlichste Cottage ist Murrelet, in dem Dr. Yelland wohnt. Er ist Donnerstag angekommen.
Das nördlichste Cottage auf der Westseite der Insel heißt Shearwater. Dort wohnt Dr. Speidel, der seit letztem Mittwoch hier ist. Etwa eine Viertelmeile südlich davon liegt Miss Emily Holcombes Atlantic Cottage. Es ist das größte Cottage und verfügt über einen Anbau, den Arthur Roughtwood, ihr Butler, bewohnt. Dann kommt Puffin Cottage, wo Martha Padgett bis zu ihrem Tod vor zwei Wochen gelebt hat. Es verfügt nur über ein Bett, daher hatte Dan Padgett ein Apartment im Stallgebäude. Nach dem Tod seiner Mutter ist er in ihr Cottage gezogen, um es auszuräumen. Und schließlich wäre da noch Dolphin Cottage genau nordwestlich vom Leuchtturm.« Er sah seinen Kollegen an. »Es wird von Guy Staveley und seiner Frau Joanne bewohnt. Jo ist Krankenschwester, und sie und Guy haben sich um Martha Padgett bis zu ihrem Tod gekümmert.«

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algliesh meinte: »Abgesehen von Dr. Staveley haben Sie also derzeit sechs Mitarbeiter. Das reicht doch bestimmt nicht aus, wenn alle Cottages belegt sind.«
»Wir beschäftigen, wie gesagt, vorübergehend Leute vom Festland, hauptsächlich als Reinigungskräfte. Die kommen jeweils für eine Woche. Alle arbeiten bereits seit Jahren für uns, sind zuverlässig und selbstverständlich diskret. Normalerweise stehen sie an den Wochenenden nicht zur Verfügung, aber wir nehmen im Augenblick ohnehin nicht so viele Gäste an, um Kapazität für die VIPs zu haben, die eventuell kommen. Darüber wissen Sie vermutlich mehr als ich.«
Lag da ein leiser Ärger in seiner Stimme? Dalgliesh ging darüber hinweg. »Ich bräuchte die Namen und Adressen dieser Aushilfen, obwohl sie wahrscheinlich nicht viel zur Aufklärung beitragen können.«
»Da bin ich mir sicher. Sie haben die Gäste ja kaum gesehen, geschweige denn gesprochen. Ich werde mir noch einmal die Unterlagen ansehen, aber ich glaube, es waren überhaupt nur zwei hier, während Oliver in seinem Cottage war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn je zu Gesicht bekommen haben.«
Dalgliesh sagte: »Erzählen Sie mir, was Sie über die Leute hier wissen.«

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s entstand eine Pause. Maycroft begann: »Ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Falls es Hinweise gibt, dass einer von uns des Mordes verdächtigt wird, müsste ich ihm oder ihr dringend raten, einen Anwalt anzurufen. Ich selbst kann nicht für sie tätig werden.« Er stockte, sagte dann: »Nicht mal für mich selbst. Meine eigene Position ist nicht gerade beneidenswert. Die Situation ist schwierig, einzigartig.«
Dalgliesh sagte: »Für uns beide. Bis mir der Obduktionsbericht vorliegt, kann ich nicht einmal sagen, ob ich überhaupt in einer Straftat ermittele. Ich rechne damit, irgendwann im Laufe des morgigen Tages von Dr. Glenister zu hören. Bis dahin gehe ich von einem ungeklärten Todesfall aus. Wie auch immer das Ergebnis lauten wird, eine Untersuchung muss durchgeführt werden, und je schneller wir die Antwort finden, desto besser für alle Beteiligten. Wem sind die Blutergüsse an Olivers Hals zuerst aufgefallen?«

D
ie beiden schauten sich an. Guy Staveley ergriff das Wort: »Ich glaube, mir. Ganz sicher bin ich jedoch nicht. Ich weiß noch, als ich sie entdeckte, habe ich unwillkürlich zu Rupert hochgeschaut, und unsere Blicke trafen sich. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.08.2006