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Kinder erleben hautnah
die Misere der Eltern

Alarmierende Datensammlung zur Familienpolitik

Von Bettina Grönewald
Düsseldorf (dpa). Fast jedes elfte Kind in Nordrhein- Westfalen ist auf Sozialhilfe angewiesen. In 215 000 Haushalten zwischen Rhein und Weser erleben Kinder hautnah die Misere ihrer überschuldeten Eltern mit.

Das Risiko eines Säuglings, zu sterben, ist in armen Familien um 30 Prozent höher als bei einem Baby aus der Oberschicht. Diese Zahlen beschreiben ganz aktuelle Lebenswirklichkeiten von Familien in NRW.
Auf mehr als 100 Seiten hat die Landesregierung jetzt ein umfassendes Bild der Situation von Eltern und Kindern im bevölkerungsreichsten Bundesland gezeichnet. Auslöser für die teils alarmierende Datensammlung war eine Große Anfrage der oppositionellen SPD-Landtagsfraktion.
»Deutschland ist in familienpolitischer Hinsicht weniger erfolgreich als die europäischen Nachbarländer«, stellt die SPD fest. Von der schwarz-gelben Landesregierung fordern die Sozialdemokraten, auf allen Ebenen gegenzusteuern und das Versprechen von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) wahrzumachen: »Nordrhein-Westfalen soll das kinderfreundlichste Bundesland werden.«
Familienminister Armin Laschet (CDU) will vor allem mit Familienzentren dafür sorgen, dass Kinder betreut und Eltern in ihren Erziehungsaufgaben professionell beraten werden. »Fernsehsendungen wie ÝSuper-NannyÜ offenbaren, dass es ein Bedürfnis nach Erziehungshilfen gibt«, stellte auch die SPD fest.
In Zeiten, die für jedes zehnte Kind in NRW von der Scheidung seiner Eltern geprägt sind und viele Familien sich mit Arbeitslosigkeit, sozialer Verelendung und Suchtproblemen konfrontiert sehen, eine schwierige Aufgabe für »Vater Staat«.
Bei einer öffentlichen Anhörung des Düsseldorfer Landtags zu den neuen Familienzentren appellierte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte kürzlich an die Staatsgewalt, zum Schutz vernachlässigter und verwahrloster Kinder ihr »Wächteramt« gegenüber schlechten Eltern stärker wahrzunehmen.
Welche Herausforderungen sich dahinter verbergen, hält der Bericht der Landesregierung in nüchternen Zahlen fest: Die gesundheitliche Situation der in Armut aufwachsenden Kinder und Jugendlichen ist deutlicher ungünstiger. In unteren sozialen Schichten treten häufiger schweres Asthma, Fettsucht, Schlafstörungen, Kopf- und Magenschmerzen sowie psychomotorische und Sprachstörungen auf.
»Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus verunglücken fast doppelt so häufig im Straßenverkehr wie Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus«, listet der Bericht weiter auf. »Kinder aus sozial benachteiligten Familien hatten ebenfalls eine höhere Unfallrate bei Verbrühungen.« Anlass zur Sorge geben zudem 155 000 Väter und 72 000 Mütter, die ihren Erziehungsaufgaben wegen Alkoholabhängigkeit nicht vollständig gewachsen sind.
Fakten, die die Landesregierung veranlasst haben, die Schulen in ihrem vor einem Monat verabschiedeten Schulgesetz zu verpflichten, jedem Anschein von Vernachlässigung und Misshandlung nachzugehen und das Jugendamt einzubeziehen. Fast 40 Prozent der Bedürftigen, die Ende 2003 auf Sozialhilfe angewiesen waren, waren minderjährig. In der Statistik für April 2006 weist die Bundesanstalt für Arbeit 300 000 Bedarfsgemeinschaften mit Minderjährigen in NRW aus.
Viele Experten äußerten in der Anhörung des Parlaments Skepsis, dass die Familienzentren ohne eine massive finanzielle Aufstockung eine Antwort auf diese komplexe Problemlage sein könnten. Angesichts der beschränkten Haushaltsmittel bestehe die Gefahr, dass es bloß zu einer »Umetikettierung« komme, warnte der Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialmanagement der Fachhochschule Koblenz, Professor Stefan Sell.

Artikel vom 31.07.2006