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Er verstummte. Nach einer Pause fragte Dalgliesh: »Haben Sie den Körper ohne andere Hilfe auf den Boden gelegt?«
»Ja, Sir. Dan wollte mit anfassen, aber das war nicht nötig. Mr. Oliver war nicht so schwer.«
Wieder trat eine Pause ein. Jago hatte offensichtlich beschlossen, freiwillig keine Informationen zu liefern, sondern nur auf Fragen zu antworten.
Dalgliesh tat ihm den Gefallen. »Wer war bei Ihnen, als sie ihn auf den Boden gelegt haben?«
»Nur Dan Padgett. Miss Holcombe hatte das Mädchen weggeführt, und das war gut so.«
»Wer hat die Schlinge gelöst und entfernt?«
Die Pause war länger. »Ich glaube, das war ich.«
»Sind Sie sich nicht sicher? Es geht hier um heute Morgen. So etwas vergisst man doch nicht so schnell.«
»Ich war das. Dan hat mir geholfen. Ich meine, ich habe den Knoten festgehalten, und er hat angefangen, das Seil durchzuschieben. Wir hatten die Schlinge gerade über den Kopf gezogen, als Mr. Maycroft und Dr. Staveley dazutraten.«
»Dann haben Sie die Schlinge also zu zweit entfernt?«
»Kann man so sagen.«
»Warum haben Sie das gemacht?«

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ago sah Dalgliesh jetzt direkt an. »Es war irgendwie nahe liegend. Das Seil hatte tief in seinen Hals eingeschnitten. Wir konnten ihn doch nicht so lassen. Das wäre nicht richtig gewesen.«
»Und dann?«
»Mr. Maycroft hat Dan und mir gesagt, wir sollten die Trage holen. Als wir zurückkamen, war Mr. Roughtwood hier, Miss Holcombes Butler.«
»Haben Sie Mr. Roughtwood da zum ersten Mal am Fundort gesehen?«
»Hab ich doch gesagt, Sir. Nachdem Miss Holcombe Millie weggebracht hatte, waren nur noch Dan und wir drei hier. Roughtwood ist erst dazugestoßen, während wir die Trage geholt haben.«
»Was ist weiter mit dem Seil passiert?«
»Mr. Maycroft hat mir im Gehen zugerufen, ich soll es zu den anderen tun, also hab ich es aufgerollt und wieder an den Haken gehängt.«
»Sie haben es nur locker aufgerollt? Die anderen sind sorgfältiger zusammengelegt.«

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ch kümmere mich um die gesamte Kletterausrüstung. Für die Seile bin ich verantwortlich. Die werden immer so aufbewahrt. Aber das heute Morgen war etwas anderes. Wäre sinnlos gewesen, es so aufzurollen wie die anderen, ich würde es sowieso nicht mehr benutzen. Das Seil bringt jetzt Unglück. Ich würde ihm weder mein Leben noch das anderer anvertrauen. Mr. Maycroft hat gesagt, ich soll den Knoten nicht anfassen. Es würde sicher eine Untersuchung geben, und vielleicht würde der Coroner sich das Seil ansehen wollen.«
»Da hatten Sie es ja bereits in den Händen gehabt, und wie Sie sagen, Dan Padgett ebenfalls.«

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önnte sein. Ich hab ihn gepackt, um die Schlinge zu lockern und sie ihm über den Kopf zu schieben. Ich wusste, dass er tot war und jede Hilfe zu spät kam. Es war einfach nicht richtig, ihn dort liegen zu lassen. Ich schätze, Dan hat das auch so empfunden.«
»Er konnte ihnen trotz seiner Erschütterung helfen? In was für einem Zustand war er, als Sie eintrafen?«
Kate fiel auf, dass die Frage unwillkommen war.
Jago antwortete schnell: »Er war aufgewühlt, wie Sie richtig sagten. Fragen Sie ihn lieber selbst, wie er sich gefühlt hat, Sir. Schätze, ganz ähnlich wie ich mich. Es war ein Schock.«
Dalgliesh nickte. »Danke, Mr. Tamlyn, für Ihre präzise Beschreibung. Würden Sie sich jetzt den Knoten bitte einmal ganz genau ansehen?«

J
ago tat es, sagte aber nichts. Kate wusste, dass Dalgliesh geduldig sein konnte, wenn man mit Geduld ans Ziel kam. Er wartete ab, und dann sagte Jago: »Mr. Oliver konnte einen Palstek knüpfen. Anscheinend hat er ihm jedoch nicht ganz getraut. Darüber sind noch zwei halbe Schläge. Stümperhaft.«
»Ist Ihnen bekannt, ob Mr. Oliver wusste, dass ein Palstek ein sicherer Knoten ist?«
»Ich schätze, er konnte einen Palstek knüpfen, Sir. Sein Vater war Bootsführer hier und hat ihn großgezogen, nachdem seine Ma gestorben war. Er hat auf Combe gelebt, bis die Insel zu Beginn des Kriegs evakuiert wurde. Danach hat er weiter hier mit seinem Vater gelebt, bis er sechzehn wurde und verschwand. Sein Dad hat ihm den Palstek bestimmt beigebracht.«
»Und das Seil? Können Sie sagen, ob es noch so dahängt wie Sie es aufgehängt haben?«
Jago betrachtete ausdruckslos das Seil. »So ziemlich.«
»Überlegen Sie genau. Sieht es Ihrer Erinnerung nach exakt so aus, Mr. Tamlyn, oder nicht?«
»Schwer zu sagen. Hab nicht besonders drauf geachtet, wie es aussah. Ich hab es einfach aufgewickelt und hingehängt. Wie ich schon sagte, Sir. Sieht ziemlich genauso aus, wie ich es in Erinnerung hab.«
Dalgliesh sagte: »Das ist vorläufig alles. Danke, Mr. Tamlyn.«

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aycroft nickte knapp. Jago drehte sich zu ihm um und machte eine Geste, die vielleicht zum Ausdruck bringen sollte, wie sinnlos er Dalglieshs Bemühungen fand. »Hat keinen Sinn mehr, jetzt weiter an der Barkasse zu arbeiten, Sir. Ist wohl auch nicht nötig. Die Maschine läuft schön rund. Ich geh dann mal in die Bibliothek zu den anderen.«
Sie blickten ihm nach, wie er energisch davonstapfte.

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algliesh nickte Kate zu. Sie öffnete ihren Spurensicherungskoffer, zog sich Latexhandschuhe an, holte einen großen Beweismittelbeutel heraus, nahm das Seil behutsam vom Haken und ließ es in den Beutel fallen, den sie anschließend versiegelte. Sie zog einen Stift aus der Tasche, blickte kurz auf die Uhr und schrieb dann die Uhrzeit und den Inhalt des Beutels aufs Etikett. Benton-Smith fügte seinen Namen hinzu. Maycroft und Staveley beobachteten das Ganze schweigend und ohne sich dabei anzusehen, doch Dalgliesh entging nicht das beklommene Schaudern, das sie erfasste. Es war als hätten sie erst jetzt voll und ganz begriffen, warum er und seine Mitarbeiter auf der Insel waren.

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lötzlich sagte Staveley: »Ich mache mich mal auf den Weg zurück zum Haus und sorge dafür, dass auch wirklich alle in der Bibliothek sind. Emily wird nicht kommen, aber alle anderen sollten sich dort einfinden.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er zur Tür hinaus und trottete schwerfällig, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann wandte sich Dalgliesh an Rupert Maycroft. »Der Leuchtturm muss abgeschlossen werden. Besteht die Möglichkeit, dass Sie den Schlüssel wieder finden?«

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aycroft starrte noch immer hinter Staveley her. Er fuhr zusammen. »Ich könnte es versuchen. Bis jetzt hat sich nie einer die Mühe gemacht, ihn zu suchen. Viel Hoffnung habe ich nicht. Der Schlüssel könnte vor Jahren verloren gegangen sein. Dan Padgett oder Jago könnten doch besser das Schloss auswechseln, allerdings glaube ich nicht, dass wir auf der Insel eins haben, das stark genug ist für diese Tür. Es würde also etwas dauern. Die beiden könnten höchstens außen dicke Riegel anbringen, doch dann könnte natürlich nach wie vor jeder hinein.«
Dalgliesh sah Benton an. »Sergeant, kümmern Sie sich bitte darum, sobald wir in der Bibliothek fertig sind. Wenn uns nur die Möglichkeit mit den Riegeln bleibt, müssen diese versiegelt werden. Das verhindert zwar nicht, dass jemand eindringt, aber dann wissen wir wenigstens Bescheid.«
»Ja, Sir.«
Vorläufig waren sie im Leuchtturm fertig. Es war an der Zeit, die anderen Bewohner von Combe kennen zu lernen.

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Sie schritten durch die große Eingangshalle auf die Bibliothekstür zu. Ehe er sie öffnete, sagte Maycroft: »Bis auf Miss Oliver und Mr. Tremlett müssten die meisten Inselbewohner da sein. Ich habe die beiden selbstverständlich nicht hergebeten. Miss Holcombe und Roughtwood sind im Atlantic Cottage, stehen aber später für Fragen zur Verfügung. Und wenn Sie hier fertig sind, werde ich erneut versuchen, Dr. Speidel und Mark Yelland zu erreichen.«

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ie betraten einen Raum, der in Größe und Form genau Maycrofts Büro entsprach, auch hier die großen Bogenfenster und der ungehinderte Blick auf Himmel und Meer. Es handelte sich jedoch unverkennbar um eine Bibliothek, denn an allen anderen Wänden erstreckten sich vom Boden bis fast zur Decke Bücherregale aus Mahagoni mit Glastüren. In dem Regal rechts von der Tür war eine CD-Sammlung untergebracht. Es gab zwei Ledersessel vor dem Kamin und Stühle um einen großen langen Tisch in der Mitte des Raumes. Hier hatten sich die Wartenden niedergelassen, bis auf zwei Frauen, die in den Ledersesseln saßen, und eine jüngere, kräftig gebaute Blondine, die am Fenster lehnte und hinausschaute. Guy Staveley stand neben ihr. Sie wandte sich um, als Dalgliesh und die kleine Gruppe hereinkamen, und fixierte den Commander unverhohlen mit einem taxierenden Blick aus Augen, die auffallend sattbraun waren wie Sirup.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.08.2006