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Deutschland haftet für Absturz

Gericht verurteilt die Bundesrepublik nach dem Unglück von Überlingen

Konstanz (dpa). Vier Jahre nach dem Flugzeugunglück von Überlingen mit 71 Toten hat das Landgericht Konstanz Deutschland zu Schadenersatz verurteilt.

Die Bundesrepublik haftet dem gestrigen Richterspruch zufolge für schwere Fehler der Schweizer Flugsicherung skyguide. Der Bund habe den Schweizern rechtswidrig die Aufsicht über Teile des deutschen Luftraums überlassen.
Das Urteil hat nach Angaben der Deutschen Flugsicherung (DFS) zunächst keine Auswirkungen auf den Luftverkehr. Ohne eine Änderung der Zuständigkeiten durch den Bund werde die bisherige Praxis fortgesetzt, sagte eine Sprecherin in Langen bei Frankfurt. Das Bundesverkehrsministerium will zunächst die Urteilsbegründung abwarten. Erst dann könne Stellung genommen werden.
Geklagt hatten die Bashkirian Airlines. Bei dem Unglück war am 1. Juli 2002 in etwa elf Kilometer Höhe über Überlingen am Bodensee eine Passagiermaschine der Fluglinie mit einem Frachtflugzeug des Kurierdienstes DHL kollidiert. Die Fluggesellschaft der russischen Teilrepublik Baschkirien hat nach dem Urteil Anspruch auf Ersatz für ihre zerstörte Maschine. Deutschland muss zudem für Forderungen der Angehörigen aufkommen. Eine Summe nannte das Gericht nicht. »Wir haben nur über das Ob der Haftung, nicht über die Höhe entschieden«, sagte der Vorsitzende Richter der 4. Zivilkammer, Wilhelm Müller.
Drastische Fehler bei skyguide waren nach Ansicht des Gerichts Ursache der Katastrophe. In der Unglücksnacht saß im Kontrollzentrum des Flughafens Zürich nur ein Lotse am Radar. Ein Warnprogramm und die Telefone waren wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb. »Wenn das funktioniert hätte, wäre das Unglück verhindert worden«, sagte Müller. Die Richter vermissten jegliche vertragliche Regelung der Arbeit von skyguide in Deutschland. Diese sei darum rechtswidrig.
Nach Ansicht der Zivilkammer verstößt sie zudem gegen das Grundgesetz. Dieses schreibt vor, dass die Luftverkehrsverwaltung eine hoheitliche Aufgabe ist, die nicht delegiert werden darf. Deutschland müsse daher im Rahmen der Amtshaftung voll für die skyguide-Pannen einstehen.
Dagegen hatte die Bundesrepublik in der mündlichen Verhandlung den Standpunkt vertreten, skyguide müsse selbst haften. Es habe Absprachen zwischen der Flugsicherung in Karlsruhe und skyguide gegeben. Die Richter hielten diese Abmachungen jedoch nicht für ausreichend. Der Leiter der Karlsruher Flugstelle könne keine Verträge für Deutschland schließen. Zudem seien diese nie im Gesetzblatt erschienen. »Es kann kein Recht gelten, das niemand kennt«, sagte Müller.
Auch das Argument der Bundesrepublik, die baschkirischen Piloten hätten Fehler gemacht, zog bei den Richtern nicht. Zwar habe die Besatzung das Kollisionswarngerät ignoriert, das ihnen »Steigen« und der DHL-Maschine »Sinken« befahl. Doch das Gericht sah die Piloten »in einer schwierigen Situation«. Sie treffe kaum ein Verschulden. »Die Bundesrepublik haftet allein«, betonte Müller.
Beim Konstanzer Landgericht sind noch weitere Zivilklagen anhängig. So fordert DHL ebenfalls Schadenersatz von Deutschland für die zerstörte Maschine. Dabei geht es um etwa 36 Millionen Euro. Umgekehrt will die Versicherung von skyguide 2,5 Millionen Euro von Bashkirian Airlines erstreiten.
Offen sind auch noch Verfahren um Schmerzensgeldansprüche eines Teils der Angehörigen.

Artikel vom 28.07.2006