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Der Einstieg in eine neue Welt

25 Jahre Alphabetisierungskurse an der VHS - Interview mit Marion Döbert

Bielefeld (WB). Die Zahl der Erwachsenen, die nicht oder nur ungenügend lesen und schreiben können, wird bundesweit auf vier Millionen geschätzt. Als eine der ersten Weiterbildungseinrichtungen in Deutschland hat die Volkshochschule Bielefeld (VHS) auf das Problem reagiert und bereits vor 25 Jahren Kurse im Bereich Alphabetisierung eingerichtet. Vor dem Jubiläum, das am Donnerstag, 14. September, in der Stadtbibliothek gefeiert wird, sprach WB-Redakteurin Uta Jostwerner mit Marion Döbert, der Fachbereichsleiterin für Alphabetisierung.

Wurde das Angebot der VHS gleich gut angenommen?Marion Döbert: Menschen mit Lese-Schreib-Problemen stehen nicht gleich vor der Tür, wenn ein Kurs angeboten wird. Sie müssen große Hemmschwellen überwinden. Mit Öffentlichkeitsarbeit muss man immer wieder Mut machen. So haben wir zum Beispiel auch auf dem Wochenmarkt informiert. Man musste sich auch auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Teilnehmer einstellen. Frauen beispielsweise können besser vormittags lernen, wenn die Kinder in der Schule sind. Schichtarbeiter brauchen andere Angebote.

Was hat sich geändert in den 25 Jahren?Marion Döbert: Die Nachfrage ist sehr gestiegen. Waren es zu Beginn vier Kurse mit 24 Teilnehmern, so haben wir derzeit zwölf Kurse mit 100 Teilnehmern. Auch sind im Laufe der Zeit weitere Angebote hinzugekommen, beispielsweise Rechnen- und Computerkurse. Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, dem fällt es auch schwer, Textaufgaben zu lösen. Eines der wichtigsten Schriftsprachmedien ist heutzutage der Computer. Vor 25 Jahren war das nicht nötig, aber heute ist der Computer in der Alphabetisierung unverzichtbar.

Wie erklären Sie sich den Anstieg?Marion Döbert: Die Anforderungen und der Druck auf dem Arbeitsmarkt sind gestiegen. Multiplikatoren wie das Sozial- oder Arbeitsamt haben uns viele Teilnehmer zugeführt. Enorm viel gebracht hat die Einführung des Alpha-Telefons vor zehn Jahren. Das ist ein bundesweites Service-Telefon für Menschen mit Lese- und Schreibproblemen. Wer dort anruft, erhält Informationen über ortsnahe Weiterbildungseinrichtungen mit Alphabetisierungskursen. Der Anruf ist kostenlos; die Nummer lautet 02 51 / 53 33 44. Auch die Fernseh- und Kinospots haben die Kurse in NRW sehr voll gemacht.

In welcher Gruppenstärke wird unterrichtet?Marion Döbert: Sechs Teilnehmer sind eigentlich das Maximum. Weil wir aber 2004 lange Wartelisten hatten, haben wir auch schon mal auf zehn aufgestockt.

Was muss man tun, um einen Alphabetisierungskurs besuchen zu können?Marion Döbert: Man muss nur bei der VHS anrufen und einen Beratungstermin ausmachen. Die Nummer lautet - immer donnerstags -Ê51-65 24. Beim Beratungstermin wird geguckt, wie stark die Lese- und Rechtschreibschwäche ist und in welchen Kurs der Teilnehmer am besten passen würde. Der Einstieg ist das ganze Jahr über möglich.

Was kostet die Teilnahme?Marion Döbert: Die Kurse sind entgeltfrei, weil wir erlebt haben, dass die Menschen wegbleiben, wenn Kosten erhoben werden. Viele sind arbeitslos oder kommen aus unteren Einkommensschichten - sie stehen am Rande des Machbaren. Und schließlich gibt es ein Recht auf Lesen und Schreiben, das man keinem vorenthalten darf. Die Stadt leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.

Wie lang ist die Verweildauer der Teilnehmer in den Kursen?Marion Döbert: Das ist ganz unterschiedlich und hängt vom Einstiegsniveau oder den Zielen der Teilnehmer ab. Manche bleiben nur ein Jahr, etwa weil sie den Führerschein machen wollen. Andere wollen ihr Wissen vertiefen und bleiben zwei bis drei Jahre.

Wissen Sie, was aus Ihren Teilnehmern später geworden ist?Marion Döbert: Leute, die ganz bestimmte Ziele haben, erreichen in der Regel viel. Etwa den Hauptschulabschluss nachzumachen. Wir hatten aber auch schon eine Teilnehmerin, Jutta, die ist später als »Botschafterin für Alphabetisierung« ausgezeichnet worden. Sie konnte lesen, hatte aber Probleme mit dem Schreiben, als sie zu uns kam. Später hat sie selbst die VHS-Computerkurse für Analphabeten geleitet. Sie hat es geschafft, Hauswirtschaftsmeisterin zu werden. Es gibt aber auch Menschen, bei denen die Lebensumstände so belastend sind, dass sie die Ausbildung abbrechen müssen.

Wie sieht so eine Ausbildung aus? Geht es nur darum, lesen und schreiben zu lernen?Marion Döbert: Wir sind stets bemüht, den Menschen nicht nur das Lesen und Schreiben beizubringen, sondern auch, ihnen die Angst zu nehmen und eine neue Welt zu eröffnen. Viele haben jahrelang sehr isoliert gelebt, sich versteckt, weil sie sich geschämt haben. Deshalb gibt es immer wieder kursübergreifende Aktivitäten wie Wochenendfahrten und gemeinsame Aktionen mit anderen VHS-Kursen.

Was gibt es sonst noch an Begleithilfen?Marion Döbert: Neu ist das E-Learning-Angebot. Das Projekt wurde zum Einsatz in den Alphabetisierungskursen und zur Unterstützung des selbständigen Lernens online zu Hause entwickelt. Seit diesem Jahr arbeiten wir auch damit.

Wie alt sind die Menschen im Durchschnitt, die zu Ihnen kommen?Marion Döbert: Der Durchschnitt liegt bei Ende 30. Ein Problem für uns ist, dass wir die Jugendlichen nicht erreichen. Sie haben von der Schule die Nase voll und versuchen erst einmal, sich so durchzuschlagen. Das war früher einfacher, als man noch als ungelernte Arbeitskraft auf dem Bau oder in der Industrie unterkommen konnte. Durch zunehmende Automatisierung fallen diese Möglichkeiten mehr und mehr weg. Deshalb wird es künftig unsere Aufgabe sein, jugendgerechte Alphabetisierungsangebote zu machen, das heißt, lesen und schreiben lernen mit einer für Jugendliche sinnvollen Tätigkeit - am besten mit Arbeit - zu verknüpfen und sie auf diese Weise stärker zu motivieren.

Artikel vom 29.07.2006