05.08.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Eine Art Weltwunder des
romanischen Mittelalters
Im französischen Cluny befand sich einst die größte Kirche der Christenheit
Wo sich früher das Kirchenschiff befand, blickt man heute zwischen Häusern hindurch über einen freien Platz, so lang wie zwei Fußballfelder. Von den sechs majestätischen Kirchtürmen ist nur noch einer erhalten. Das einstmals größte Gotteshaus der Welt ist heute nur noch ein Mix aus Ruine und späteren Anbauten.
Nur 4400 Einwohner nennen Cluny heute ihre Heimat. Das kleine Städtchen lebt ganz und gar vom Tourismus. Und dennoch geht von Cluny eine Magie aus, die ihresgleichen sucht. Derzeit lässt sie sich am besten in Paderborn nachvollziehen, denn in der Ausstellung »Canossa -ĂŠErschütterung der Welt« dreht sich eben nicht nur alles um die Burg in der Emilia Romagna, sondern neben Goslar spielt auch Cluny eine ganz wesentliche Rolle.
Das 910 gegründete Benediktinerkloster mit Abtei war Anfang des 10. Jahrhunderts Ausgangs- und Mittelpunkt der cluniazensischen Reform. Die Abtei verdankt ihren weitreichenden Einfluss der strengen Beobachtung benediktinischer Ordensregeln von mehr als 1000 Klöstern mit mehr als 20 000 Mönchen! Von 927 bis 1157 wurde Cluny von fünf einflussreichen Äbten regiert, die zugleich Freunde und Ratgeber von Kaisern, Königen, Fürsten und Päpsten waren. Darauf fußte der einmalige Status der Abtei, die direkt dem Papst unterstellt war.
Großabt Hugo begann 1088 in Cluny mit dem Bau der bislang größten Kirche der Christenheit. Die enormen Abmessungen der prachtvollen Anlage wurden erst mit dem Bau des Petersdoms in Rom übertroffen. In den Wirren der Französischen Revolution wurde das Kloster Cluny zerstört.
Allein das fünfschiffige Langhaus des Kirchenbaus war mehr als 180 Meter lang, besaß einen Chorumgang mit fünf Kapellen, zwei Querschiffe, eine große dreischiffige Vorkirche und nicht weniger als sechs Türme.
Wer heute nach Cluny nördlich von Lyon fährt, um dort das berühmte Kloster zu besichtigen, wird von der Realität vielleicht enttäuscht sein. Kaum etwas zeugt noch davon, dass hier einmal eine Art Weltwunder des romanischen Mittelalters gestanden hat. Ein Kloster, erbaut als ein Sitz Gottes auf Erden, das aller Welt zeigen sollte, dass neben der geistlichen Sphäre der Kirche alle weltliche Macht eitel und vergänglich sei.
Beklagt wurden seinerzeit Verfall von geistlicher Zucht und Ordnung in den Klöstern, Käuflichkeit geistlicher Ämter und Missachtung des Zölibats durch die Priester. Vor allem im deutschen Reich stand die Kirche zu sehr unter dem Einfluss weltlicher Herren. Damit sollte nun Schluss sein. Die von den Klöstern Cluny und Gorze in Lothringen ausgehende so genannte cluniazensische Reform wollte der Verweltlichung der Kirche entgegenwirken und der Allmacht des Papstes gegen den König Geltung verschaffen.
Cluny war daher viel größer und prächtiger als der gewaltige Dom, den die deutschen Könige in Speyer hatten erbauen lassen. Trotzdem ist es gerade diese Kirche, die heute noch am ehesten etwas vom Charakter der Abtei von Cluny wiederzugeben vermag. Gewissermaßen verkörpert sich hier in der Architektur der Streit zwischen der päpstlichen Kirche (Cluny) und den deutschen Kaisern und Königen (Speyer) um Vormachtstellung, die unter Heinrich IV. und Papst Gregor VII. im Investiturstreit einen Gipfelpunkt fand. Damit schließt sich der Bogen zwischen Deutschland, Cluny und Canossa.
Aus dem Burgund sind Reliefplatten, Kapitelle, die einst einen Kreuzgang zierten, Fußbodenplatten und Fragmente der gewaltigen Chorschranken, hinter denen im 12. Jahrhundert bis zu 400 Mönche Platz fanden, nach Paderborn gekommen.
Der Stolz der Wissenschaftler, die es durch ihre Kooperation mit den französischen Kollegen erreicht haben, dass so viele Stücke wie noch nie Cluny verlassen durften, sind Fragmente vom Grab des heiligen Hugo. Teile seiner Grabskulptur wurden in Paderborn erstmals zusammengesetzt und sollen nach Abschluss der Ausstellung zu den wichtigsten Exponaten im Museum von Cluny zählen.
Dort hat man bisher nur mit einer 3D-Filmanimation versucht, Größe und Pracht des einstigen Klosters begreiflich zu machen. Während in Cluny Touristen das Bild prägen, sind Urlauber im benachbarten Taizé unerwünscht. Die ökumenische Gemeinschaft des im vergangenen Jahr ermordeten Frère Roger lässt sich nicht besichtigen. Thomas Albertsen

Artikel vom 05.08.2006