26.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein neues Berufsbild prägt die Gemeinde

Vor mehr als 100 Jahren sorgten Sandvorkommen für die Ansiedlung von Glashütten

Von Ulrich Hohenhoff
Brackwede (WB). Sand und der so genannte Plänerkalk des Teutoburger Waldes waren »Anno dazumal« unentbehrliche Mittel bei der Glasherstellung. Und beides gab es im Bielefelder Süden in Hülle und Fülle. Dazu kam die neu geschaffene günstige Eisenbahnverbindung, die den Transport erleichterte. Kein Wunder also, dass sich in Brackwede Glashütten ansiedelten, hatten sie doch den Bodenschatz Sand unmittelbar vor der Haustür oder konnten ihn aus der nahe gelegenen Senne anliefern lassen. Die Glasmacher kamen aus ganz Deutschland und auch aus dem Ausland.

Und das hatte Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur. Denn viele der Zugezogenen mit einem ganz neuen Berufsbild - dem des Glasmachers - waren katholischer Konfession, stärkten die kleine katholische Bevölkerungsgruppe in der Gemeinde und trugen dazu bei, dass sich bald eine selbstständige kirchliche Gemeinde mit eigenem Gotteshaus (Herz-Jesu 1891) und Schule (Frölenbergschule) bilden konnte. Der Bau der Lönkertschule (heute städtische Ganztagsschule am Lönkert) ist mit auf die kopfstarke Glasmacher-Bevölkerung zurückzuführen. Im Volksmund hieß die Lönkert-Schule bald nur noch »Glasmacher-Gymnasium«. Das jedenfalls geht aus den Aufzeichnungen hervor, die die Heimatforscher Karl Beckmann, ehemals Realschullehrer in Brackwede, und Ortsheimatpfleger Rolf Künnemeyer in ihrem Buch zum 850-jährigen Bestehen Brackwedes verarbeiteten.
Am 4. September 1871 bat Wilhelm Schüffner aus Gernheim an der Weser den Amtmann von Brackwede, bei der Regierung in Minden die Konzession für Anlage und Betrieb einer Glashütte auf einem ehemals Luttermöllerschen Grundstück zwischen Minden-Koblenzer Straße (heute Artur-Ladebeck-Straße) und der Eisenbahnstraße zu erwirken. 1871 erfolgte die Genehmigung, und bereits im Juli 1872 nahm die Glashütte ihren Betrieb auf. Schüffner war Schwager des Besitzers der Glashütte Gernheim, Wilhelm Schrader.
Er ließ das Werk als »Glashütte Teutoburg W. Schüffner« eintragen. Die Brackweder Fabrik war zunächst Filiale der Glashütte Gernheim, die bald darauf schloss. Wilhelm Schrader kaufte die Glashütte in Brackwede, sah sich aber selbst außer Stande, das Werk zu leiten, und setzte deshalb Heinrich Gößling als Verwalter ein. 1876 verkaufte er die beiden Öfen an den Weserfährmann Wilhelm Gößling.
In welchem Zusammenhang die Gößlings zueinander standen, lässt sich nicht klären. Von da an hieß des Unternehmen »Glashütte Teutoburg W. Gößling & Sohn«. Die Verbindung zu den Alteigentümern blieb: Eduard Gößling heiratete Wilhelm Schraders Tochter Elisabeth.
Das Geschäft florierte, auch dank des teilweise direkt auf dem Firmengrundstück abgebauten Rohstoffes Sand. Produziert wurden Zylinder für Petroleumlampen, Farbengläser und nach und nach auch Flaschen. Immer mehr Glasmacher strömten nach Brackwede, auch etliche »Quirkendörper«, die zunächst mit dem Beruf nichts anfangen konnten, fanden Arbeit in der Glashütte.
Dass das Unternehmen sich sozial zeigte und den Werksangehörigen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Hütte sogar Wohnungen zur Verfügung stellte - noch heute stehen im unteren Teil der Hauptstraße einige ehemalige Glasmachhäuser - hatte praktische Gründe: Der Produktionsprozess erforderte schnelle Erreichbarkeit der Glasmacher, die immer dann arbeiten mussten, wenn die Schmelze fertig war. Und das war zeitlich nie genau zu regeln.
Glas aus Brackwede war begehrt, erlebte einen wahren Boom, als die Nachfrage nach Kugelverschlussflaschen für Selterswasser, Exportbierflaschen und Milchflaschen rasant anstieg. Dazu kamen Gläser für die chemische Industrie. Die Flaschenmacherei stand in hoher Blüte, ein großer Prozentsatz der Glasprodukte wurde sogar in die USA exportiert. Und die Belegschaft wuchs und wuchs. Waren es 1878 erst 50 bis 60 Arbeiter, so zählte die Glashütte Teutoburg im Jahr 1900 bereits 413 Beschäftigte. Die Arbeitsbedingungen waren hart, Zwölf-Stunden-Schichten und Sonntagsarbeit an der Tagesordnung. Als die Gewerkschaften auch bei den Glasmachern Fuß fassten, kam es 1901 zu einem Generalstreik. Eduard Gößling duldete keine gewerkschaftlichen Aktivitäten, führte schwarze Listen und drohte den Arbeitern als Sanktion gar die Räumung der Wohnungen an. Vorbei war es mit dem »Betriebsfrieden«.
Am 1. Januar 1902 verkaufte Eduard Gößling das Unternehmen an die »Gerresheimer Glashüttenwerke AG«. Die konnte kostengünstiger produzieren, lag zudem »transportkostengünstiger«. 1930 erfolgte die Stilllegung aller Öfen. Hauptursache war die Massenherstellung von Flaschen auf maschinellem Wege. Nur ein Auslieferungslager blieb zunächst noch bestehen, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er Jahren aufgelöst wurde. Damit fand ein Kapitel Brackweder Industriegeschichte seinen Abschluss, das ohne die Bodenschätze nicht denkbar gewesen wäre.

Artikel vom 26.07.2006