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In diesem Fall war die Botschaft doppeldeutig, ein Raum, der eher übernommen als persönlich eingerichtet worden war. Ein Mahagonischreibtisch und ein Sessel mit geschwungener Rückenlehne standen mit Blick zum Fenster und an der hinteren Wand ein kleinerer Schreibtisch mit Sessel sowie ein rechteckiger Computertisch mit Rechner, Drucker und Faxgerät. Daneben befand sich ein großer schwarzer Safe mit Kombinationsschloss. Vier graue Aktenschränke lehnten an der Wand gegenüber dem Fenster, und ihre Modernität kontrastierte mit den niedrigen verglasten Bücherregalen zu beiden Seiten des reich verzierten Marmorkamins. Die Regale beherbergten eine bunte Mischung ledergebundener Bände und eher sachlicheren Büchern. Dalgliesh erkannte den roten Schutzumschlag des WhoÕs Who, das Shorter Oxford English Dictionary und einen Atlas zwischen den Reihen von Stehordnern. Im Raum verteilt waren etliche kleine Ölgemälde, doch nur über dem Kamin fiel eines ins Auge: ein Gruppenporträt mit einem Haus im Hintergrund und dem Besitzer, seiner Frau und den Kindern in steifer Pose davor. Es zeigte drei Söhne, zwei davon in Uniform, und der dritte stand ein wenig abseits von seinen Brüdern und hielt ein Pferd an den Zügeln. Es wirkte ungemein gestellt, aber was es über die Familie aussagte, war eindeutig. Zweifellos war es jahrzehntelang an diesem Platz geblieben, der ihm weniger aufgrund des künstlerischen Wertes zukam, sondern wegen seiner trefflichen Darstellung der Familienwerte und auch als nostalgische Erinnerung an eine verlorene Generation.

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aycroft hatte wohl das Gefühl, dass der Raum einer Erklärung bedurfte, denn er sagte: »Ich habe das Büro von dem früheren Verwalter übernommen, Colonel Royde-Matthews. Die Möbel und die Bilder gehören zum Haus. Meine eigenen Sachen habe ich größtenteils eingelagert, als ich den Posten übernahm.«
Er war also frei von Ballast auf die Insel gekommen. Was mochte er sonst noch alles hinter sich gelassen haben, überlegte Dalgliesh.
Maycroft sagte: »Sie möchten sich bestimmt setzen. Vielleicht sollten wir die Schreibtischsessel hinüber zu der Sitzgruppe vor dem Kamin schieben, dann hätten wirÕs bequemer.«
Benton-Smith ergriff die Initiative. Sie nahmen im Halbkreis vor dem reich verzierten Kamin mit der leeren Feuerstelle Platz, fast wie eine Gebetsgruppe, fand Dalgliesh, bei der noch unklar war, wer die erste Fürbitte äußern würde. Benton-Smith platzierte seinen Schreibtischsessel ein wenig abseits von den anderen und griff unauffällig nach seinem Notizblock.

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aycroft begann: »Ich muss Ihnen sicher nicht sagen, dass wir alle tun, was wir können, um Sie bei Ihren Ermittlungen zu unterstützen. Olivers Tod und vor allem die grässlichen Todesumstände haben die gesamte Insel erschüttert. Die Geschichte von Combe Island ist durchaus von Gewalt geprägt, aber das ist lange her. Auf dieser Insel hat es seit dem Ende des letzten Krieges keinen unnatürlichen Todesfall mehr gegeben - genau genommen überhaupt keinen Todesfall, außer Mrs. Padgett und das war vor zwei Wochen. Die Einäscherung hat letzten Freitag auf dem Festland stattgefunden. Ihr Sohn ist noch hier bei uns, wird uns jedoch bald verlassen.«
Dalgliesh sagte: »Abgesehen davon, dass ich alle gemeinsam in der Bibliothek sprechen werde, werde ich selbstverständlich auch noch mit jedem einzeln reden müssen. Man hat mir einiges über die Geschichte der Insel und der Stiftungsgründung erzählt. Ich weiß auch ein bisschen über die Menschen, die hier leben. Was mich nun interessiert, ist die Frage, wie Nathan Oliver sich hier einfügte und wie die Beziehung zwischen ihm, Ihren Mitarbeitern und den anderen Besuchern war. Es geht mir nicht darum, persönliche Vorlieben anzuprangern oder Motive dort zu sehen, wo es keine gibt, ich brauche jedoch Offenheit.«

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ie Warnung war eindeutig. In Maycrofts Stimme lag ein Anflug von Empörung. »Die können Sie haben. Ich werde nicht so tun, als wäre die Beziehung zu Nathan Oliver harmonisch gewesen. Er kam regelmäßig, jedes Vierteljahr, und in meiner Zeit - und ich glaube auch in der meines Vorgängers - wurde seine Ankunft nie freudig begrüßt. Offen gestanden, er war ein schwieriger Mensch, anspruchsvoll, kritisch, nicht gerade höflich zum Personal, und er hegte anderen gegenüber schnell einen gewissen Groll, ob nun begründet oder nicht. Im Stiftungsvertrag steht, dass niemandem, der auf der Insel geboren wurde, der Aufenthalt hier verweigert werden kann. Allerdings ist nicht genau festgelegt, wie häufig oder wie lang diese Aufenthalte sein können. Oliver ist - war - der einzige noch lebende gebürtige Insulaner, und wir konnten ihn nicht zurückweisen, obwohl ich mich ehrlich gesagt frage, ob sein Verhalten das nicht gerechtfertigt hätte. Mit zunehmendem Alter wurde er immer schwieriger, nun, er hatte bestimmt seine Probleme. Der letzte Roman war nicht so begeistert aufgenommen worden wie die früheren, und vielleicht fürchtete er, dass sein Talent nachließ. Dazu können Ihnen seine Tochter und sein Lektor und Sekretär vermutlich mehr sagen. Mein Hauptproblem war, dass er Emily Holcombes Cottage, also Atlantic Cottage, für sich beanspruchte. Auf der Karte werden Sie sehen, dass es der Klippe am nächsten liegt und eine wundervolle Aussicht bietet. Miss Holcombe ist die Letzte ihrer Familie, und obwohl sie vor einigen Jahren ihren Platz im Stiftungsrat aufgegeben hat, gibt der Stiftungsvertrag ihr das Recht, bis ans Ende ihrer Tage auf der Insel zu leben. Sie hat nicht die Absicht, Atlantic Cottage zu verlassen, und ich hatte nicht die Absicht, sie darum zu bitten.«
»War Mr. Oliver in den letzten Wochen besonders schwierig? Gestern, zum Beispiel?«

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aycroft blickte zu Dr. Staveley hinüber. Der Arzt sagte: »Gestern war wohl der bedauerlichste Tag von Olivers Aufenthalt auf der Insel. Am Donnerstag hatte er sich von meiner Frau, die Krankenschwester ist, Blut abnehmen lassen. Er hatte darum gebeten, weil er unter Müdigkeit und Erschöpfung litt und meinte, er sei vielleicht anämisch. Eine Untersuchung schien angebracht, und ich beschloss, mehrere Tests vornehmen zu lassen. Wir arbeiten mit einem privaten Labor zusammen, das mit dem Krankenhaus in Newquay verbunden ist. Aber Dan Padgett, der einige Sachen seiner Mutter zu dem dortigen Secondhandladen bringen wollte, ließ die Blutprobe über Bord fallen. Es war offensichtlich ein Versehen, doch Oliver reagierte äußerst heftig. Beim Dinner hatte er zudem eine wütende Diskussion mit einem unserer Besucher, Dr. Mark Yelland, dem Direktor des Forschungslabors Hayes-Skolling, über dessen Versuche mit Tieren. Ich glaube nicht, dass ich je ein unangenehmeres und peinlicheres Abendessen über mich ergehen lassen musste. Oliver verließ den Raum vor Ende der Mahlzeit und sagte, dass er heute Nachmittag die Barkasse benötige. Er präzisierte nicht, ob er abreisen wollte, aber das war eindeutig impliziert. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe.«
»Wer hat beim Dinner den Streit angefangen, Oliver oder Dr. Yelland?«

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aycroft schien zu überlegen, ehe er antwortete: »Ich glaube, es war Dr. Yelland, aber fragen Sie ihn lieber selbst, wenn Sie mit ihm sprechen. Ich erinnere mich nicht genau. Es könnte der eine oder der andere gewesen sein.«
Dalgliesh wollte Maycrofts Zögern nicht überbewerten. Ein bekannter Wissenschaftler wurde wegen einer hitzigen Debatte beim Dinner nicht gleich zum Mörder. Er wusste, welchen Ruf Mark Yelland genoss. Der Mann war heftige Kontroversen über seine Forschungsmethoden gewöhnt und hatte mit Sicherheit Strategien entwickelt, um damit fertig zu werden. Mord gehörte mit großer Sicherheit nicht dazu. Er fragte: »Fanden Sie Mr. Olivers Verhalten irrational und würden Sie ihn als psychisch labil bezeichnen?«
Eine Pause entstand, dann sagte Staveley: »Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich glaube nicht, dass ein Psychologe so weit gehen würde. Sein Verhalten beim Dinner war feindselig, jedoch nicht irrational. Oliver schien mir ein zutiefst unglücklicher Mensch zu sein. Ich wäre nicht überrascht, wenn er tatsächlich beschlossen hätte, allem ein Ende zu machen.«
Dalgliesh fragte: »Auf so spektakuläre Weise?«
Jetzt schaltete sich Maycroft ein: »Ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns ihn wirklich verstanden hat.«

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r. Staveley schien bereits seine letzte Äußerung zu bedauern. Jetzt warf er ein: »Wie gesagt, ich bin kein Experte auf dem Gebiet und kann keine sachverständige Meinung über Olivers Gemütsverfassung abgeben. Mit der Bemerkung, dass ein Selbstmord mich nicht überraschen würde, wollte ich bloß sagen, dass er offensichtlich unglücklich war und alles weitere unvorstellbar wäre.«
»Und was haben Sie wegen Dan Padgett unternommen?«
Maycroft erklärte: »Ich habe natürlich mit ihm geredet. Oliver wollte, dass er entlassen wird, aber das stand nie zur Debatte. Wie gesagt, es war ein Missgeschick. Das ist kein Kündigungsgrund, dazu gab es auch keine Veranlassung. Ich habe mich dazu durchgerungen, Padgett zu sagen, er täte vielleicht besser daran, sich auf dem Festland Arbeit zu suchen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.08.2006