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Der Tod kann bereits bei relativ geringem Kraftaufwand eintreten und tatsächlich nicht beabsichtigt sein. Ein fester Griff dieser Art kann zum Tod durch Vagus-Blockade oder zerebrale Ischämie führen, nicht durch Ersticken. Verstehen Sie die Termini, die ich verwende?«
»Ja, MaÕam. Darf ich eine Frage stellen?«
»Natürlich, Sergeant.«
»Ist es möglich, Aussagen über die Größe der Hand zu machen, etwa ob sie männlich oder weiblich ist und ob es irgendwelche Abnormitäten gibt?«
»Gelegentlich, allerdings nur unter Vorbehalt, vor allem bei der Frage nach Abnormitäten der Hand. Wenn deutliche Blutergüsse von Daumen- oder Fingerdruck vorliegen, kann die Spannweite geschätzt werden, aber eben nur geschätzt. Man sollte sich davor hüten, zu eindeutige Aussagen darüber zu treffen, was möglich und was unmöglich ist. Bitten Sie den Commander, Ihnen von dem Fall Harold Loughans aus dem Jahre 1943 zu erzählen.«

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er Blick, den sie Dalgliesh zuwarf, war leicht provokant. Er beschloss, ihr das nicht einfach durchgehen zu lassen. Er sagte: »Harold Loughans hatte eine Pub-Besitzerin namens Rose Robinson erdrosselt und ihr die Abendeinnahmen gestohlen. Der Verdächtige hatte an der rechten Hand keine Finger, doch der forensische Pathologe Keith Simpson sagte aus, dass die Strangulation möglich gewesen wäre, wenn Loughans sich rittlings auf sein Opfer gesetzt hätte und so sein ganzes Körpergewicht hinter den Druck der Hand legen konnte. Das war zumindest eine Erklärung, warum es keine Fingerabdrücke gab. Loughans plädierte auf nicht schuldig, und Bernard Spilsbury trat als Zeuge der Verteidigung auf. Die Geschworenen glaubten seiner sachverständigen Meinung, dass Loughans nicht in der Lage gewesen wäre, Mrs. Robinson zu erwürgen, und er wurde freigesprochen. Später legte er dann ein Geständnis ab.«

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r. Glenister sagte: »Der Fall sollte allen Sachverständigen und Geschworenen eine Warnung sein, sich nicht vom Starkult blenden zu lassen. Bernard Spilsbury galt als unfehlbar, vor allem weil er ein großartiger Zeuge war. Doch dieser Fall war nicht der Einzige, bei dem er sich geirrt hatte, wie sich später herausstellte.« Sie wandte sich an Dalgliesh. »Ich denke, ich habe hier alles gesehen, was ich sehen muss. Ich werde die Obduktion hoffentlich morgen Vormittag abschließen, und müsste Ihnen so gegen Mittag einen vorläufigen mündlichen Bericht liefern können.«
Dalgliesh nickte. »Ich habe meinen Laptop dabei, und ich werde sicher hier so untergebracht, dass ich über einen Telefonanschluss verfüge. Die Nummer lasse ich Ihnen per Mail später zukommen.«
»Dann rufe ich Sie morgen Mittag an und gebe Ihnen das Wichtigste durch.«
Während Benton-Smith das Laken holte, fragte Dalgliesh: »Wird nicht inzwischen daran gearbeitet, wie man Fingerabdrücke von Haut abnehmen kann?«

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as ist höchst problematisch. Erst kürzlich habe ich mich mit einem der Forscher unterhalten, die an diesen Experimenten beteiligt sind, aber bislang war man nur in Amerika erfolgreich, wo teilweise aufgrund der höheren Luftfeuchtigkeit unter Umständen auch mehr Schweiß auf der Haut zurückbleibt. Der Bereich des Halses ist zu weich für einen nachweisbaren Abdruck, und die notwendigen Fingerrillendetails sind praktisch nicht zu erkennen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Umfeld der Blutergüsse auf DNA hin zu untersuchen, allerdings glaube ich nicht, dass das vor Gericht akzeptiert würde, weil die Möglichkeit einer Kontaminierung durch eine dritte Person oder durch die Körperflüssigkeiten des Opfers post mortem besteht. Diese Methode der DNA-Analyse ist ganz besonders heikel. Wenn der Mörder dagegen versucht hat, die Leiche zu bewegen und ihre nackte Haut an anderen Stellen als am Hals berührt hat, dann würde uns das eine bessere Oberfläche für Fingerabdrücke oder eine DNA-Probe liefern. Auch wenn der Täter Öl oder Fett an den Händen hatte, würde das die Chancen erhöhen, Fingerabdrücke zu finden. Ich glaube nicht, dass das hier der Fall ist, aber man darf ja hoffen. Das Opfer war offensichtlich vollständig bekleidet, und ich bezweifle, dass Sie irgendwelche Kontaktspuren an seiner Jacke finden werden.«

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ate meldete sich erstmals zu Wort. »Angenommen, es war Selbstmord, der wie Mord aussehen sollte. Könnte Oliver sich diese Fingerspuren am Hals selbst zugefügt haben?«
»Dem Druck nach zu urteilen, der erforderlich war, um diese Spuren zu hinterlassen, würde ich sagen, nein. Meiner Meinung nach war Oliver bereits tot, als er aufgehängt wurde. Wenn ich morgen seinen Hals geöffnet habe, weiß ich mehr.«
Dr. Glenister sammelte ihre Instrumente ein und klappte die Arzttasche zu. »Vermutlich möchten Sie den Hubschrauber erst dann kommen lassen, wenn Sie am Tatort waren, falls Sie irgendwelche Beweismittel ins Labor schicken wollen. Somit habe ich die Zeit für einen kleinen Spaziergang. In vierzig Minuten bin ich wieder zurück. Falls Sie mich vorher brauchen, ich gehe an den Klippen entlang.«
Damit verschwand sie, ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen. Dalgliesh trat an seinen Spurensicherungskoffer, holte ein Paar Handschuhe heraus und schob dann die Finger in Olivers Jackentaschen. Er fand nichts, außer einem sauberen und gefalteten Taschentuch in der linken unteren Tasche und einem Hartschalenbrillenetui mit einer halbrunden Lesebrille in der rechten. Er machte sich keine große Hoffnung, dass einer der Funde sich als ergiebig erweisen würde. Dennoch schob er sie jeweils in einen Beweismittelbeutel und wandte sich wieder der Leiche zu. Die beiden Hosentaschen waren leer bis auf einen kleinen, seltsam geformten Stein, der offenbar schon sehr lange dort war, denn er klebte voller Flusen. Die Kleidung und die Schuhe würden im Obduktionsraum entfernt und dann ins Labor geschickt werden.
Kate sagte: »Mich wundert, dass er nicht mal ein Portemonnaie dabeihatte, aber wahrscheinlich braucht man auf der Insel gar keins.«

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algliesh sagte: »Nun, falls es sich entgegen aller Vermutungen von Dr. Glenister doch um Selbstmord handeln sollte, haben wir hier jedenfalls keinen Abschiedsbrief gefunden. Kann natürlich sein, dass er einen im Cottage hinterlassen hat. Wenn ja, hätte sein Tochter das bestimmt längst gesagt.«
Kate wandte ein: »Vielleicht hat er ihn in die Schreibtischschublade gelegt oder halb versteckt. Er hat bestimmt nicht gewollt, dass jemand hinter ihm herkommt, bevor er beim Leuchtturm ist.«
Benton breitete das Laken über die Leiche und sagte: »Aber wir gehen nicht von Selbstmord aus, Sir? Diese Blutergüsse kann er sich unmöglich selbst zugefügt haben.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Sergeant. Aber wir sollten erst den Obduktionsbericht abwarten, bevor wir uns auf eine Theorie festlegen.«

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ie waren fertig. Das Laken über dem Leichnam schien weicher geworden zu sein und ließ die spitze Nase und die Knochen der ruhenden Arme noch stärker hervortreten, anstatt sie gnädig zu verhüllen. Und jetzt, dachte Dalgliesh, wird der Raum von dem Toten Besitz ergreifen. Wie immer kam es ihm so vor, als wäre die Luft von der Endgültigkeit und dem Mysterium des Todes durchtränkt. Die gemusterte Tapete, die zurechtgerückten Sessel, der Regency-Schreibtisch, sie alle verspotteten in ihrer Normalität und Beständigkeit die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens.

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r. Staveley folgte ihnen ins Büro. Maycroft erklärte: »Ich möchte Guy gern dabeihaben. Er ist praktisch mein Stellvertreter, obwohl das offiziell nie festgelegt wurde. Möglicherweise kann er dem, was ich sage, noch etwas hinzufügen.«
Dalgliesh war klar, dass Maycroft sich nicht helfen lassen, sondern sich vielmehr absichern wollte. Er war Anwalt, und es war ihm wichtig, dass bei seiner Befragung ein Zeuge zugegen war. Dalgliesh fiel kein vernünftiger Einwand ein, und so erhob er auch keinen.

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alglieshs erster Eindruck beim Betreten des Büros war, dass es sich um ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer handelte, das nicht ganz erfolgreich an die Erfordernisse eines offiziellen Büroraumes angepasst worden war. Das große Bogenfenster war so dominant, dass das Auge erst mit Verspätung die eigentümliche Dichotomie des Raumes wahrnahm. Zwei Fensterflügel waren weit geöffnet, und dahinter lag die glitzernde Weite des Meeres, das sich vor Dalglieshs Augen von einem blassen Blau zu einem Tiefblau verdunkelte. Hier war das Tosen der Brandung nur schwach zu hören, doch ein tiefes gravitätisches Rauschen lag in der Luft. Der Unbezähmbare sah für eine Weile ruhig und gelassen aus, und der Raum mit seiner behaglichen Biederkeit barg eine stille, unbeeinträchtigte Unverletzlichkeit.

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algliesh hatte einen geübten Blick dafür, rasch und ohne offensichtliche Neugier einen Eindruck von dem zu gewinnen, was ein Zimmer über seinen Bewohner verriet. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.08.2006