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Aus diesem Winkel würde ein Patient nur den Himmel sehen können, doch selbst diese eingeschränkte Sicht konnte ihm wahrscheinlich die tröstliche Erinnerung vermitteln, dass es eine Welt außerhalb des abgelegenen Krankenzimmers gab. Der frische Hauch durch das offene Fenster und das unaufhörliche Rauschen des Meeres änderten nichts daran, dass die Luft, wie Dalgliesh fand, säuerlich roch und der Raum so klaustrophobisch wie eine Zelle wirkte.
Die Kissen waren aus dem Bett entfernt und auf einen der beiden Sessel gelegt worden, und die mit einem Laken bedeckte Leiche zeichnete sich darunter ab, als erwartete sie die Aufmerksamkeiten des Bestatters. Dr. Glenister stellte ihre Arzttasche auf den Nachttisch und holte einen Plastikkittel, eine Packung Handschuhe und eine Lupe heraus. Niemand sagte etwas, während sie den Kittel anzog und das dünne Latex über ihre langen Finger streifte. Als sie ans Bett trat, nickte sie Benton-Smith zu, der das Laken behutsam entfernte, indem er es von oben nach unten und dann seitlich faltete, ehe er das Leinenquadrat oben auf die Kissen legte, so vorsichtig wie bei einer feierlichen Zeremonie. Dann schaltete er unaufgefordert die einzige Lampe über dem Bett ein.

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r. Glenister wandte sich den beiden Männern an der Tür zu. »Danke, ich brauche sie im Augenblick nicht mehr. Ein Spezialhubschrauber für den Abtransport des Toten wird demnächst eintreffen. Ich werde die Leiche dann begleiten. Vielleicht könnten Sie in Ihrem Büro auf Mr. Dalgliesh und seine Leute warten.«
Maycroft übergab Dalgliesh den Schlüssel. »Es ist im zweiten Stock gegenüber der Bibliothek. Der Fahrstuhl hält genau zwischen den beiden Räumen.«
Er zögerte einen Moment und betrachtete die Leiche ein letztes Mal in einer finalen Geste des Respekts, ein Neigen des Kopfes, mehr nicht. Dann, ohne ein weiteres Wort, gingen er und Staveley aus dem Raum.

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livers Gesicht war Dalgliesh nicht unbekannt; im Laufe der Jahre hatte er viele Fotos von ihm gesehen, und die sorgfältig ausgesuchten Bilder hatten Aussagekraft gehabt, hatten den feinen Gesichtszügen etwas intellektuelles, sogar etwas wie Adel verliehen. Das alles war vorbei. Die halb geöffneten glasigen Augen ließen ihn verschlagen und boshaft dreinschauen, und ein Fleck vorn auf der Hose verströmte schwachen Uringeruch, die letzte Entwürdigung infolge eines plötzlichen und gewaltsamen Todes. Der Unterkiefer hing herunter, die Oberlippe war hochgezogen und die Vorderzähne wie zu einem Knurren gebleckt. Ein dünner Blutfaden war aus dem linken Nasenloch gesickert und schwarz eingetrocknet, so dass es schien, als käme ein Insekt hervorgekrochen. Das volle Haar, eisengrau, mit Silber durchsetzt, fiel wellig aus der hohen Stirn zurück. Noch im Tode glitzerten die silbrigen Fäden durch das ins Fenster hereinfallende Licht. Sie hätten künstlich gewirkt, hätten die Augenbrauen nicht eine genauso ungewöhnliche Farbenmischung gezeigt.
Nathan Oliver war klein, Dalgliesh vermutete höchstens etwas über einen Meter sechzig, und der Kopf war überproportional groß im Vergleich zu den zarten Knöcheln an Handgelenken und Fingern. Er trug eine Jacke, die einer viktorianischen Schießjacke ähnelte, in schwerem blaugrauem Tweed, mit Gürtel und vier aufgesetzten Taschen, deren Klappen zugeknöpft waren, ein graues Hemd, das am Hals offen stand, und eine graue Kordhose. Seine braunen, glänzend geputzten Straßenschuhe wirkten viel zu schwer für seine zarte Figur.
Einen Moment lang betrachtete Dr. Glenister schweigend den Leichnam, dann berührte sie sanft die Muskeln von Gesicht und Hals und überprüfte die Gelenke der einzelnen Finger, die gekrümmt auf dem Bettlaken lagen, als hätten sie es im Tode halb gepackt.

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ie beugte den Kopf tief über die Leiche, richtete sich dann auf und sagte: »Die Leichenstarre ist weit fortgeschritten. Ich würde sagen, Zeitpunkt des Todes war zwischen halb acht und neun Uhr heute Morgen, wahrscheinlich eher früher als später. Bei dem fortgeschrittenen Stadium der Leichenstarre brauchen wir gar nicht erst versuchen, ihn zu entkleiden. Wenn ich den Zeitpunkt später genauer bestimmen kann, werde ich das tun, aber ich glaube kaum, dass ich viel präziser werde, selbst nach Untersuchung des Mageninhalts.«

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ie Würgemale an dem weißen, mageren Hals waren so deutlich, dass es fast unecht wirkte, wie ein geheuchelter Tod, nicht der Tod selbst. Der Bluterguss unter dem rechten Ohr, offensichtlich vom Knoten verursacht, war großflächig. Dalgliesh schätzte ihn auf rund fünf Quadratzentimeter. Der kreisrunde Abdruck des Seils hoch unter dem Kinn zeichnete sich so klar ab wie eine Tätowierung.

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r. Glenister musterte ihn und reichte Dalgliesh dann die Lupe mit den Worten: »Die Frage lautet: Haben wir es hier mit Tod durch Erhängen oder durch Erwürgen zu tun? Der Knoten rechts am Hals wird uns nicht weiterhelfen. Der Bluterguss ist großflächig, was auf einen großen, ziemlich harten Knoten hinweist. Interessanter ist da die linke Halsseite, wo wir zwei deutliche kreisrunde Blutergüsse haben, wahrscheinlich von Fingern. Ich vermute, auf der rechten Halsseite war ein Daumenabdruck, aber der ist unter dem dicken Bluterguss infolge des Knotens verschwunden. Ich gehe davon aus, dass der Angreifer Rechtshänder war. Was die Todesursache betrifft, Commander, da brauchen Sie meine sachverständige Meinung wohl kaum. Er wurde erwürgt. Das Aufhängen kam später. Das Seil hat deutlich seine Oberflächenstruktur hinterlassen, ein regelmäßiges, sich wiederholendes Muster. Es könnte sich um ein Seil mit einem kräftigen Kern handeln, wahrscheinlich Nylon und mit einer strukturierten Außenhaut. Beispielsweise ein Kletterseil.«
Sie sprach, ohne Dalgliesh anzusehen. Er dachte, Sie kann sich denken, dass man mir gesagt hat, wie er gestorben ist, aber sie fragt nicht danach. Muss sie auch gar nicht, schließlich sind wir auf einer Insel mit Klippen. Dennoch, mit ihren Schlussfolgerungen war sie erstaunlich rasch bei der Hand.

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ährend er auf Dr. Glenisters Finger starrte, die über die Leiche glitten, gehorchten Dalglieshs Gedanken ihren ganz eigenen Impulsen, obwohl er zugleich perfekt auf die Erfordernisse des Augenblicks reagierte. Wie schon als junger Detective Constable bei seinem ersten Mordfall war er von der Absolutheit des Todes betroffen. Sobald der Leichnam kalt war und die Leichenstarre ihr unausweichliches und vorhersehbares Werk begonnen hatte, war es nahezu unmöglich sich vorzustellen, dass diese erstarrende Masse aus Fleisch, Knochen und Muskeln einmal lebendig gewesen war. Kein Tier war je so tot wie ein Mensch. Lag das daran, dass mit diesem endgültigen Erstarren viel mehr verloren gegangen war, nicht nur die instinktiven Gelüste und Bedürfnisse des Körpers, sondern das ganze umfassende Leben des menschlichen Geistes? Der Tote hatte zumindest ein Memento seiner Existenz hinterlassen. Doch angesichts dieser ultimativen Verneinung wirkte selbst sein reiches Vermächtnis an Fantasie und Sprachgewalt nur kindisch und belanglos.
Dr. Glenister wandte sich an Benton-Smith, der stumm ein wenig abseits stand. »Das ist doch nicht Ihr erster Mordfall, Sergeant?«
»Nein, MaÕam. Aber der erste Fall von Tod durch Erwürgen.«
»Dann sehen Sie sich das mal genauer an.« Sie reichte ihm die Lupe.
Benton-Smith ließ sich Zeit, dann gab er sie wortlos zurück.
Dalgliesh fiel ein, dass Dr. Edith Glenister eine renommierte Professorin gewesen war. Jetzt, in Gegenwart eines Schülers, konnte sie der Versuchung offenbar nicht widerstehen, in ihre frühere Rolle als Pädagogin zu schlüpfen. Dalgliesh fand das ganz liebenswert und nahm es ihr nicht übel, dass sie einen seiner Untergebenen unterwies.

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r. Glenister sprach weiterhin Benton-Smith an. »Erwürgen ist eine der interessantesten Diagnosen auf dem Gebiet der forensischen Medizin. Es kann natürlich nicht selbst zugefügt werden. Bewusstlosigkeit würde eintreten und der Griff sich lockern. Das bedeutet, dass man bei Erwürgen stets von einer Tötungsabsicht ausgeht, es sei denn, es gibt schlüssige gegenteilige Beweise. Die Strangulation erfolgt meistens manuell. Demzufolge finden sich häufig Druckspuren am Hals. Manchmal gibt es auch Kratzwunden oder den Abdruck eines Fingernagels, wenn das Opfer versucht hat, den Griff des Angreifers zu lockern. Dafür findet sich hier kein Hinweis. Die zwei nahezu identischen Blutergüsse auf der linken Halsseite über dem Schilddrüsenlappen lassen stark vermuten, dass die Strangulation hier von einem erwachsenen Rechtshänder vorgenommen wurde, und zwar mit nur einer Hand. Der zwischen Daumen und den übrigen Fingern entstehende Druck führt dazu, dass der Kehlkopf gequetscht wird. Möglicherweise ist dahinter eine Blutung aufgetreten. Bei Menschen im Alter dieses Opfers kann es zu einem Bruch an der Basis des Zungenbeins oberhalb der Schilddrüse kommen. Nur wenn der Griff mit besonders viel Druck erfolgt, sind weitere Frakturen zu erwarten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.08.2006