16.08.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Maycroft schien das als Einladung aufzufassen, das inzwischen schon peinliche Schweigen zu durchbrechen: »Bemerkenswert, nicht wahr? Der Architekt war ein Schüler von Leonard Stokes, und nach StokesÕ Tod hat er sich an dem Haus orientiert, das dieser für Lady Digby in Minterne Magna gebaut hatte. Die Hauptfassade befindet sich dort in Dorset auf der Rückseite, ebenso wie der Eingang, aber Holcombe wollte, dass die beiden Haupträume mit den langen Bogenfenstern und die Vordertür sich zum Meer hin öffnen. Wer von unseren Besuchern etwas von Architektur versteht, weist gerne darauf hin, dass die Bescheidenheit des ursprünglichen Entwurfs so dem Protz geopfert wurde und Combe die geniale stilistische Harmonie vermissen lässt, die Stokes in Minterne gelang. Vier Bogenfenster statt zwei und die Gestaltung des Eingangs lassen den Turm zu wuchtig erscheinen. Ich kenne Minterne nicht, könnte mir jedoch vorstellen, dass sie Recht haben. Das Haus ist für meinen Geschmack ganz schön imposant. Wahrscheinlich hab ich mich dran gewöhnt.«

Die Vordertür aus dunklem Eichenholz mit den schweren Eisenbeschlägen stand offen. Sie traten in eine quadratische Eingangshalle, deren Boden mit einem komplizierten geometrischen Muster gefliest war. Im Hintergrund teilte sich eine breite Treppe und führte links und rechts zu einer geschlossenen Chorempore, die von einem großen Buntglasfenster dominiert wurde, das einen romantisierten König Artus und die Ritter der Tafelrunde zeigte. In der Halle waren einige gedrechselte Eichenmöbel sparsam verteilt, ein Stil, der vermuten ließ, dass es dem ursprünglichen Besitzer mehr um die Demonstration seines Standes gegangen war als um Bequemlichkeit. Kaum vorstellbar, dass jemals jemand in diesen überladenen Sesseln oder auf der langen Sitzbank mit der hohen, kunstvoll geschnitzten Rückenlehne Platz nahm.
Maycroft sagte: »Wir haben einen Fahrstuhl. Durch diese Tür bitte.«

D
as Zimmer, in das sie kamen, diente offensichtlich als Büro und als Garderoben- und Wirtschaftsraum zugleich. Darauf ließen ein Schreibtisch, der ziemlich abgenutzt aussah, und eine Reihe von Kleiderhaken mit Regenkleidung sowie ein niedriges Regal für Stiefel schließen. Seit ihrer Ankunft waren sie niemandem mehr begegnet. Dalgliesh fragte: »Wo sind denn alle, ich meine die Gäste und das Personal?«
Maycroft antwortete: »Die Mitarbeiter sind benachrichtigt worden, dass sie sich für die Vernehmung durch Sie bereithalten sollen. Sie warten entweder im Haus oder in ihren Unterkünften. Ich habe sie gebeten, später in die Bibliothek zu kommen. Abgesehen von Olivers Tochter Miranda und seinem Lektor Dennis Tremlett haben wir zurzeit nur zwei Gäste. Wie an so einem Tag zu erwarten, sind sie nicht im jeweiligen Cottage geblieben. Sie können überall auf der Insel sein. Sobald es dunkel wird, können wir sie bestimmt telefonisch erreichen. Keiner von beiden hat sich zum Dinner angemeldet.«
Dalgliesh fragte nach: »Vielleicht muss ich sie bereits vorher sprechen. Gibt es keine Möglichkeit, sie irgendwie zu verständigen?«
»Nur die, einen Suchtrupp loszuschicken, und ich habe mich dagegen entschieden. Ich dachte, es sei besser, die Leute hier im Haus zusammenzuhalten. Es ist üblich, unsere Gäste nur dann zu stören oder Kontakt zu ihnen aufzunehmen, wenn es unbedingt erforderlich ist.«

D
algliesh lag auf der Zunge, dass bei einem Mord nun einmal andere Regeln galten als sonst, doch er schluckte den Kommentar runter. Die beiden Gäste mussten vernommen werden, aber das konnte noch warten. Vorläufig war es wichtiger, die Inselbewohner beisammenzuhaben.

M
aycroft sagte: »Die zwei Krankenzimmer befinden sich im Turm unmittelbar unter meiner Wohnung. Nicht gerade sehr praktisch, aber die Arztpraxis ist ebenfalls in diesem Stockwerk, und es ist sehr ruhig. Wir können eine Trage in den Aufzug schieben, doch bislang war das noch nie nötig. Der Aufzug wurde vor drei Jahren ausgetauscht. Es war höchste Zeit.«
Dalgliesh fragte: »Haben Sie im Leuchtturm oder sonst wo eine Art Abschiedsbrief von Mr. Oliver gefunden?«

M
aycroft sagte: »Im Leuchtturm jedenfalls nicht, allerdings haben wir nicht danach gesucht. Wir haben zum Beispiel auch nicht seine Taschen durchsucht. Offen gestanden, wir sind gar nicht auf die Idee gekommen. Es wäre uns furchtbar taktlos erschienen.«
»Und Miss Oliver hat ebenfalls nichts davon erwähnt, dass er vielleicht im Cottage einen Brief zurückgelassen hat?«
»Nein, und É ich wollte nicht danach fragen. Ich habe ihr die Nachricht überbracht, dass ihr Vater tot ist. Ich war als Freund dort, nicht als Polizist.«

E
r hatte leise gesprochen, aber seine Worte klangen vorwurfsvoll, und als Dalgliesh zu Maycroft hinüberschaute, sah er, dass er im Gesicht rot angelaufen war. Der Commander entgegnete nichts. Maycroft war der Erste gewesen, der Olivers Leiche gesehen hatte; unter den gegebenen Umständen hielt er sich gut.
Erstaunlicherweise ergriff nun Dr. Glenister das Wort. Sie sagte trocken: »Wollen wir hoffen, dass sie den Unterschied zu schätzen wusste.«

D
er geräumige Aufzug war mit geschnitztem Holz verkleidet und hatte eine gepolsterte Ledersitzbank an der rückwärtigen Wand. Auf zwei Seiten war er verspiegelt. Auf dem Weg nach oben, starrte Dalgliesh in die bis in Unendliche gespiegelten Gesichter von Maycroft und Staveley, und ihm fiel auf, wie unterschiedlich sie wirkten. Maycroft sah jünger aus, als er erwartet hatte. Der Mann hatte doch erst in Combe Island angefangen, nachdem er in den Ruhestand gegangen war. Entweder er hatte sich recht jung zur Ruhe gesetzt, oder aber die Jahre waren gnädig zu ihm gewesen. Warum auch nicht? Das Leben eines Provinzanwalts brachte wohl kaum ein überdurchschnittliches Herzinfarktrisiko mit sich. Sein seidiges hellbraunes Haar wurde schütter, jedoch ohne die Spur eines weißen Haars. Die klaren Augen unter den geraden Brauen waren grau und die Haut fast faltenlos, bis auf drei parallele Furchen in der Stirn. Was ihm fehlte, war jugendlicher Elan. Auf Dalgliesh machte er den Eindruck eines gewissenhaften Mannes in mittleren Jahren, der sich damit begnügt hatte, Schlachten zu vermeiden, statt sie zu gewinnen. Der Familienanwalt, den man beruhigt zu Rate ziehen konnte, wenn man einen Kompromiss erreichen wollte, allerdings keiner, der für eine harte Auseinandersetzung infrage kam.

G
uy Staveley, mit Sicherheit der jüngere der beiden, sah zehn Jahre älter aus als sein Kollege. Sein Haar war ergraut und glanzlos und auf dem Scheitel hatte er eine kahle Stelle wie eine Tonsur. Er war groß, Dalgliesh schätzte ihn auf gut über einen Meter achtzig, doch er bewegte sich ohne Selbstvertrauen, die knochigen Schultern gebeugt, das Kinn vorgestreckt, als rechnete er jeden Moment damit, erneut mit den Ungerechtigkeiten des Lebens konfrontiert zu werden. Dalgliesh erinnerte sich an HarknessÕ beiläufige Worte. Ein Kind ist wohl aufgrund seiner Fehldiagnose gestorben, da hat er sich einen Job gesucht, wo schlimmstenfalls mal einer von der Klippe stürzt und er als Arzt nicht verantwortlich gemacht werden kann. Dalgliesh wusste, dass es Dinge gab, die einen Menschen unwiderruflich körperlich und seelisch zeichneten, Dinge, die niemals vergessen oder schöngedacht werden konnten, die weder die Stimme der Vernunft kleinreden noch Reue weniger schmerzlich gestalten konnten. Bei chronisch Kranken hatte er diesen Blick bereits gesehen, in dem geduldiges Ertragen lag, ohne einen Funken Hoffnung.

3
D
er Fahrstuhl hielt ohne das geringste Rucken an, und die Gruppe folgte Maycroft einen Korridor mit cremefarbenen Wänden und gefliestem Boden entlang bis zu einer Tür auf der rechten Seite.
Maycroft holte einen Schlüssel mit einem Namensschildchen aus der Tasche. »Das ist der einzige Raum, den wir abschließen können, und zum Glück haben wir den passenden Schlüssel nicht verloren. Ich habe gedacht, es wäre bestimmt in Ihrem Sinne, dass niemand Zugang zu dem Leichnam hat.«
Er trat beiseite, um sie hineinzulassen, und blieb mit Dr. Staveley knapp hinter der Tür stehen.

D
er Raum war unerwartet groß und hatte zwei hohe Fenster mit Blick auf das Meer. Das Oberlicht des einen Fensters war offen, und die zarten, cremefarbenen Vorhänge flatterten unstet wie von einem zittrigen Atemzug bewegt. Die Einrichtung war ein Kompromiss zwischen Zweckmäßigkeit und häuslicher Behaglichkeit. Die William-Morris-Tapete, zwei viktorianische Ledersessel und ein Regency-Schreibtisch unter dem Fenster verströmten die zwanglose Normalität eines Gästeraums, wohingegen der Medikamentenwagen, der Nachttisch und das Einzelbett mit den Hebeln und der Rückenstütze die düstere Unpersönlichkeit eines Krankenhauszimmers heraufbeschworen. Das Bett stand im rechten Winkel zum Fenster.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.08.2006