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Sie setzten den Flug schweigend fort, durch den Motorenlärm und die Kürze der Reise von der Notwendigkeit befreit, Konversation zu machen. Nur wenige Minuten später überflogen sie das gekräuselte Blau des Bristol-Kanals, und fast augenblicklich lag Combe Island unter ihnen, so unerwartet, als wäre es aus den Wellen aufgetaucht und so bunt und klar konturiert wie ein Farbfoto, mit silbrigen Granitklippen, die hoch über der weiß kochenden Gischt aufragten. Dalgliesh dachte, dass der Anblick einer Insel aus der Luft einfach die Fantasie beflügeln musste. Von herbstlichem Sonnenlicht überflutet, erstreckte sich vor ihm eine andere Welt, dem Meer entronnen und trügerisch ruhig, doch sie weckte Kindheitserinnerungen an Abenteuerromane, Aufregung und Gefahr. Für ein Kind ist jede Insel eine Schatzinsel. Und selbst für einen Erwachsenen hielt Combe wie jede kleine Insel eine paradoxe Botschaft bereit: den Gegensatz zwischen ihrer ruhigen Einsamkeit und der latenten Kraft des Meeres, die seinen abgeschiedenen, verlockenden Frieden sowohl schützend umschloss als auch bedrohte.

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algliesh sah Dr. Glenister an. »Waren Sie schon mal auf der Insel?«
»Noch nie, obwohl ich einiges darüber weiß. Besucher sind nur in Ausnahmefällen zugelassen. Es gibt einen modernen vollautomatischen Leuchtturm an der Nordwestspitze, was bedeutet, dass Trinity House, die Behörde, die für Leuchttürme zuständig ist, in regelmäßigen Abständen Leute für Wartungsarbeiten hinschickt. Der Ausnahmefall, den unser Besuch darstellt, dürfte gewiss weniger willkommen sein.«

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ährend sie zum Landeanflug ansetzten, prägte Dalgliesh sich die wichtigsten Punkte ein. Falls Entfernungen sich als entscheidend erwiesen, würde man ihnen bestimmt eine Karte zur Verfügung stellen, aber jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, sich die Topografie einzuprägen. Die Insel lag rund zwölf Meilen vom Festland entfernt und war ungefähr von Nordosten nach Südwesten ausgerichtet, wobei die östliche Seite leicht konkav war. Es gab nur ein größeres Gebäude, und das erhob sich auf der Südwestspitze der Insel. Wie andere große Häuser, die er aus der Luft gesehen hatte, wirkte auch Combe House so präzise geometrisch angeordnet wie das Modell eines Architekten. Es war ein exzentrisches, steinernes Gebäude mit zwei Flügeln und einem wuchtigen Turm in der Mitte, und es machte einen so wehrhaften Eindruck, dass das Fehlen von Wachtürmchen wie eine architektonische Sünde wirkte. In der Fassade zum Meer hin glitzerten vier lange Bogenfenster in der Sonne, und hinter dem Haus befanden sich zwei parallele Steingebäude, die aussahen wie Stallungen. Etwa fünfzig Meter dahinter war der Hubschrauberlandeplatz mit einem Kreuz markiert. Auf einem Felsvorsprung westlich des Hauses stand ein eleganter, weißer Leuchtturm, der von einer roten Laterne gekrönt wurde.
Dalgliesh brüllte über den Rotorenlärm hinweg: »Könnten Sie vor der Landung noch eine niedrige Runde um die Insel fliegen? Ich möchte mir gerne einen Gesamteindruck verschaffen.«

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er Pilot nickte. Der Hubschrauber stieg wieder höher, schwenkte vom Haus weg und dröhnte dann die nordöstliche Küstenlinie entlang. In unregelmäßigen Abständen gab es acht Steincottages, vier auf den Nordwestklippen und vier an der Südostküste. Die Mitte der Insel war mit buntem, niedrigem Buschwerk und vereinzelten kleinen Wäldchen aus verkrüppelten Bäumen bewachsen und von Pfaden durchzogen, die so schwach zu erkennen waren, dass man sie für Wildwechsel hätte halten können. Die Insel schien wirklich uneinnehmbar, keine Strände, keine zurückweichende Gischt. Im Nordwesten, wo Felsen wie zertrümmerte Zähne ins Meer ragten und sich über das wütende Tosen der Wellen erhoben, waren die Klippen höher und beeindruckender. Dalgliesh fiel auf, dass der niedrigere und schmalere Klippenstreifen, der den gesamten Südteil der Insel säumte, nur von der engen Hafenmündung unterbrochen wurde. Beim Anblick dieses malerischen Miniaturhafens war kaum vorstellbar, welch panische Angst die verschleppten Sklaven empfunden haben mussten, die an diesem Ort des Schreckens gelandet waren.

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nd hier war das erste Anzeichen von Leben. Ein stämmiger, dunkelhaariger Mann in hohen Gummistiefeln und Rollkragenpullover trat aus einem Steincottage am Kai. Er blieb stehen, schirmte die Augen ab und blickte einen Moment zu ihnen hoch, ehe er sich erstaunlich desinteressiert an ihrer Ankunft rasch umwandte und zurück ins Cottage ging.
Ansonsten entdeckten sie keine Menschenseele. Erst als der Rundflug beendet war, und sie über dem Landekreis schwebten, tauchten drei Gestalten aus dem Haus auf und kamen mit der geordneten Präzision eines Parademarsches auf sie zu. Die beiden, die vorneweg schritten, waren akkurater gekleidet als das auf der Insel sonst üblich sein dürfte: Hemdkragen geschlossen und beide mit Krawatte. Dalgliesh fragte sich, ob sie sich vor seiner Ankunft umgezogen hatten und ob hinter dieser sorgsamen Förmlichkeit eine subtile Botschaft steckte, dass er nämlich in einem Trauerhaus begrüßt wurde und nicht etwa am Tatort eines Verbrechens. Außer den drei männlichen Gestalten war niemand in Sicht. Die Fassade an der Rückseite des Hauses war schlicht, und davor erstreckte sich ein weiter, gepflasterter Hof zwischen den parallelen Stallgebäuden, die mit den Gardinen vor den Fenstern wie zu Wohnquartieren umgebaut aussahen.

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ie duckten sich unter den langsamer werdenden Rotorblättern des Hubschraubers weg und gingen auf die drei Wartenden zu. Es war offensichtlich, wer von ihnen das Sagen hatte. Der Mann trat vor. »Commander Dalgliesh, ich bin Rupert Maycroft, der Verwalter hier. Das ist Guy Staveley, mein Kollege und Inselarzt, und das ist Dan Padgett.« Er stockte einen Moment, als sei er unsicher, wie er Padgett vorstellen sollte, dann sagte er: »Er wird sich um Ihr Gepäck kümmern.«

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adgett war ein schlaksiger junger Mann, und sein Gesicht wirkte blasser, als man es bei einem Insulaner erwartet hätte. Er trug das Haar kurz geschoren, so dass die leicht gewölbte Kopfhaut des Schädels durchschimmerte. Er trug eine dunkelblaue Jeans zum weißen T-Shirt. Trotz seines schmächtigen Körperbaus waren seine langen Arme muskulös und die Hände groß. Er nickte, sagte aber nichts.

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algliesh stellte seine Begleitung vor, und es wurden höflich Hände geschüttelt. Dr. Glenister weigerte sich entschieden, ihre Taschen abzugeben. Dalgliesh und Kate behielten ihre Spurensicherungskoffer, doch den Rest des Gepäcks hievte sich Padgett ohne Anstrengung auf die Schultern, nahm Bentons Reisetasche in die Hand und ging zu einem bereitstehenden Wagen. Maycroft deutete auf eine Seite des Hauses und forderte sie offensichtlich auf, ihm zu folgen, doch seine Stimme wurde von dem erneut einsetzenden Lärm des Hubschraubers übertönt. Sie sahen zu, wie dieser sachte abhob, zum Abschied einen Kreis beschrieb und dann aufs offene Meer hinaus abschwenkte.
Maycroft sagte: »Ich vermute, Sie möchten zuerst zu dem Leichnam.«

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r. Glenister antwortete: »Ich würde gerne meine Untersuchung durchführen, ehe Commander Dalgliesh irgendwelche Details über die Todesumstände erfährt. Ist die Leiche bewegt worden?«
»Sie befindet sich jetzt in einem unserer beiden Krankenzimmer. Ich hoffe, wir haben da nichts falsch gemacht. Wir haben ihn runtergenommen, und es kam uns irgendwie - na ja - unmenschlich vor, ihn da allein am Fuß des Turmes liegen zu lassen, selbst mit dem Laken. Es schien ganz natürlich, ihn auf eine Trage zu legen und ins Haus zu bringen. Das Seil haben wir im Leuchtturm gelassen.«
Dalgliesh fragte: »Unbewacht? Ich meine, ist der Leuchtturm verschlossen?«

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ein. Das geht nicht, weil wir keinen Schlüssel mehr haben. Es gab mal einen, nachdem der Leuchtturm renoviert wurde - zumindest habe ich das gehört -, aber der fehlt seit Jahren. Wir haben keine Kinder auf der Insel, und unangemeldete Besucher sind nicht erlaubt, daher gab es keinen Grund, den Leuchtturm abzuschließen. Er hat innen einen Riegel. Der Gast, der die Renovierung bezahlt hat, ein Leuchtturmliebhaber, hat sich gern auf die Plattform unterhalb der Laterne gesetzt und wollte dort nicht gestört werden. Wir haben uns nie darum gekümmert, den Riegel entfernen zu lassen, aber ich glaube nicht, dass er überhaupt benutzt wird.«

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aycroft war vorausgegangen, nicht zur rückwärtigen Tür des Hauses, sondern um den linken Flügel herum zum säulengesäumten Hauptportal auf der Vorderseite. Vor ihnen erhob sich der Mittelteil mit den zwei langen Bogenfenstern in den beiden Stockwerken unter dem massiven, wuchtigen Turm, und er war um einiges beeindruckender als von der Luft aus zu erkennen gewesen war. Unwillkürlich blieb Dalgliesh stehen und blickte hoch.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.08.2006