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Jo Staveley lachte. »Die beiden machen sich keine Gedanken um Anstandsformen! Die haben eine Affäre. Fragt mich nicht, wie sie das hingekriegt haben, aber sie haben eine.«
Staveleys Stimme klang unnatürlich schneidend. »Bist du sicher, Jo? Haben sie dir das gesagt?«
»Das brauchten sie nicht. Fünf Minuten mit ihnen in einem Raum, und es war offensichtlich. Sie schlafen miteinander.« Sie sah Emily Holcombe an. »Schade, dass Sie nicht mit den Männern hingegangen sind, um die Nachricht zu überbringen, Emily. Sie hätten die Situation sofort durchschaut.«
Emily Holcombe sagte trocken: »Höchstwahrscheinlich. Das Alter hat meine Wahrnehmungsfähigkeit jedenfalls noch nicht getrübt.«

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aycroft beobachtete die beiden. Ihm entging nicht der kurze Blick, den sie wechselten und in dem, wie er fand, amüsierte weibliche Komplizenschaft mitschwang. Die zwei Frauen hätten unterschiedlicher kaum sein können. Er hatte gedacht, wenn sie überhaupt ein ausgeprägtes Gefühl verband, dann Abneigung. Doch jetzt wurde ihm klar, dass die beiden Verbündete wären, sollte es zwischen ihnen vieren hier im Raum zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Es war einer dieser Momente, in denen es ihm gelang, Einblick in die erstaunliche Unwägbarkeit anderer Charaktere zu gewinnen - etwas, für das er praktisch kein Gespür gehabt hatte, ehe er auf die Insel kam, und die ihn noch immer überraschen konnten.
Emily Holcombe sagte: »Das macht die Sache natürlich komplizierter, für sie zumindest. Ich frage mich, ob sie es Oliver gesagt haben. Wenn ja, könnte das ein Motiv sein.«
Das Schweigen, das daraufhin entstand, währte nur Sekunden, aber es war total. Jo Staveleys Hand erstarrte, das Weinglas auf halbem Weg zu den Lippen. Dann stellte sie es mit großem Bedacht wieder auf den Tisch, als wäre der kleinste Laut fatal.
Emily Holcombe schien sich der Wirkung dieses einen folgenschweren Wortes gar nicht bewusst. »Ein Motiv für Olivers Selbstmord. Und auch eine Erklärung für diese außergewöhnliche Szene gestern beim Dinner. Das war selbst für Nathan Oliver in seiner schlimmsten Stimmung kein normales Verhalten. Wenn man dann noch bedenkt, dass sein letzter Roman enttäuschte, und er schließlich nicht mehr der Jüngste war und das Versiegen seines Talentes vor Augen hatte, dann kann man verstehen, warum er es an der Zeit fand, seinen Abschied zu nehmen. Es ist doch klar, dass er fast völlig von seiner Tochter abhängig war und wahrscheinlich genauso von Tremlett. Wenn er gerade erfahren hatte, dass die beiden ihn verlassen wollten, um konventionellere Bedürfnisse zu befriedigen, könnte das der Auslöser gewesen sein.«
Jo Staveley wandte ein: »Aber wenn Tremlett Miranda heiraten wollte, hätte Oliver ihn ja nicht unbedingt verlieren müssen.«
»Das vielleicht nicht, doch es hätte zwangsläufig zu einer Verschiebung von Tremletts Prioritäten geführt, die Oliver vermutlich nicht begrüßt hätte. Dennoch, ich gebe zu, das geht uns nichts an. Falls die Polizei diesen faszinierenden Seitenweg erkunden will, soll sie es tun.«
Staveley sprach langsam wie zu sich selbst. »Es spricht einiges gegen Selbstmord.«

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ieder trat Stille ein. Maycroft beschloss, dass es an der Zeit war, die Spekulationen zu beenden. Das Gespräch geriet gefährlich außer Kontrolle. »Ich denke, das alles sollten wir der Polizei überlassen. Es ist ihre Aufgabe, die Fakten zu ermitteln, und unsere, ihr dabei zu helfen, so gut es geht.«
Jo Staveley sagte: »So gut, dass wir ihnen sagen, dass zwei der Verdächtigen eine Affäre miteinander haben?«
Maycroft erwiderte: »Jo, hier gibt es keine Verdächtigen. Wir wissen noch nicht, wie Oliver gestorben ist. Wir sollten solche Begriffe vermeiden. Es ist unpassend und unverantwortlich.«

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o Staveley blieb unbeeindruckt. »Entschuldigung, aber falls es Mord war - die Möglichkeit besteht, das hat Guy ja mehr oder weniger gesagt -, dann sind wir bestimmt alle Verdächtige. Ich möchte wissen, wie viel wir freiwillig sagen sollen. Ich meine, erzählen wir diesem Commander, dass der Verstorbene keineswegs allgemein betrauert wird, dass er, was uns angeht, ein Unsympath war? Rücken wir damit heraus, dass er gedroht hat, sich hier niederzulassen und uns allen das Leben zur Hölle zu machen? Oder noch genauer, erzählen wir ihm von Adrian Boyde?«

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aycrofts Stimme war ungewöhnlich fest. »Wir beantworten seine Fragen, und zwar wahrheitsgemäß. Wir sprechen für uns selbst und nicht für andere, und das schließt Adrian mit ein. Falls jemand fürchtet, sich selbst zu belasten, hat er das Recht, alle weiteren Fragen nur noch in Anwesenheit eines Anwalts zu beantworten.«
»Der Sie nicht sein können, wie ich vermute.«
»Selbstverständlich nicht. Falls es kein Selbstmord war, bin ich genauso verdächtig wie alle anderen. Man müsste einen Anwalt vom Festland holen. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«
»Und was ist mit den anderen beiden Gästen, Dr. Yelland und Dr. Speidel? Hat man ihnen schon gesagt, dass Nathan Oliver tot ist?«
»Wir konnten sie noch immer nicht erreichen. Wenn sie es erfahren, möchten sie vielleicht abreisen. Ich glaube nicht, dass Commander Dalgliesh sie daran hindern kann. Schließlich wird die Insel kein Hort des Friedens und der Einsamkeit mehr sein, wenn die Polizei hier herumläuft. Ich vermute allerdings, er wird sie vernehmen müssen, ehe sie abreisen. Vielleicht hat einer von ihnen gesehen, wie Oliver zum Leuchtturm ging.«

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mily Holcombe fragte: »Haben dieser Commander und seine Leute vor, auf der Insel zu wohnen? Müssen wir uns ihnen gegenüber gastfreundlich zeigen? Die werden ja wohl kaum Proviant mitbringen. Erwartet man von uns, dass wir sie auf Kosten des Stiftungsrats durchfüttern? Um wen handelt es sich eigentlich genau?«
»Wie gesagt, nur um drei Personen. Commander Dalgliesh, Detective Inspector Kate Miskin und ein Sergeant namens Francis Benton-Smith. Ich habe mit Mrs. Burbridge und Mrs. Plunkett gesprochen. Wir dachten, wir könnten die beiden Untergeordneten im Stallgebäude unterbringen und Commander Dalgliesh im Seal Cottage. Sie werden wie normale Gäste behandelt. Frühstück und Mittagessen wird Ihnen zu den Unterkünften gebracht, und das Dinner können sie mit uns im Speisesaal einnehmen oder in der Unterkunft, ganz nach Wunsch. Ich denke, dagegen gibt es keine Einwände?«
»Und das wöchentliche Personal? Sind die Leute verständigt worden?«
»Ich konnte sie telefonisch erreichen. Ich habe ihnen eine Woche bezahlten Urlaub gegeben. Montagmorgen wird kein Boot Richtung Pentworthy ablegen.«

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mily Holcombe meinte: »Das waren bestimmt Anweisungen aus London. Und wie haben Sie den Leuten diese unverhoffte und untypische Wohltätigkeit erklärt?«
»Gar nicht. Ich habe ihnen gesagt, dass wir sie bei nur zwei Gästen nicht benötigen. Die Nachricht von Nathan Olivers Tod wird wohl erst heute Abend bekannt werden, wahrscheinlich zu spät für die Sonntagszeitungen. Miss Oliver war mit dem Zeitpunkt einverstanden, und auch sie wollte nicht, dass sich als Erstes die Lokalpresse darauf stürzt.«
Emily Holcombe ging zum Tisch. »Mord hin oder her, ich brauche Montagmorgen die Barkasse. Ich habe um halb zwölf einen Zahnarzttermin in Newquay.«
Maycroft runzelte die Stirn. »Das wird unangenehm werden, Emily. Die Medien lauern bestimmt nur darauf.«
»Wohl kaum in Newquay. Wenn überhaupt warten die an der Anlegestelle in Pentworthy. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich durchaus fähig bin, mit der Presse fertig zu werden, ob lokal oder überregional.«
Maycroft erhob keine weiteren Einwände. Er fand, dass er die Besprechung alles in allem besser im Griff gehabt hatte als befürchtet. Guy war ihm hingegen keine große Hilfe gewesen. Der Mann schien sich emotional von der Tragödie zu distanzieren. Vielleicht war das ja nachvollziehbar: Nachdem er den Pflichten und Aufgaben seiner Hausarztpraxis entronnen war, wollte er wahrscheinlich keine neuen übernehmen. Aber diese Distanziertheit war Besorgnis erregend. Er hatte sich sehr auf Guys Unterstützung verlassen.

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mily Holcombe unterbrach seine Gedanken. »Wer von euch etwas essen möchte, sollte sich lieber jetzt ein Sandwich nehmen. Die Polizei müsste bald hier sein. Ich gehe dann zurück zum Atlantic Cottage, wenn Sie nichts dagegen haben, Rupert. Ich würde vorschlagen, wir überlassen das Feld den Männern, Jo. Ein Empfangskomitee aus zwei Personen ist wohl angemessen. Wir wollen doch nicht, dass sich unsere Besucher allzu wichtig vorkommen. Es handelt sich ja nun weiß Gott nicht um die berühmtesten Leute, die wir je auf Combe Island begrüßt haben. Und ich werde auch nicht in der Bibliothek dabei sein. Falls der Commander mich sprechen möchte, soll er sich anmelden.«
Die Tür öffnete sich, und Adrian Boyde kam herein. Er hatte ein Fernglas um den Hals hängen. »Ich habe gerade den Hubschrauber gesichtet. Die Polizei ist gleich da.«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.08.2006