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Seien Sie nicht albern, Padgett. Ein intelligenter Mensch bringt sich nicht um, weil er sich ein zweites Mal Blut abnehmen lassen muss. Das ist ja wohl keine Operation am offenen Herzen. Nichts, was Sie getan oder nicht getan haben, war von Bedeutung.« Der Anblick von Padgetts Gesicht, wie er sich den Tränen nahe abwandte. Wie er es selbst neben dem Bett im Krankenzimmer aushielt, während Staveley das Laken über Olivers Leiche glatt zog, und zum ersten Mal mit verzweifelt intensivem Blick das Muster der William-Morris-Tapete wahrnahm. Am lebhaftesten aber, als wäre er vor der Mauer des Leuchtturms von Flutlicht angestrahlt worden, der hängende Körper, der überdehnte Hals und die kläglich baumelnden nackten Füße - wobei sein Gehirn ihm sagte, dass sie nicht nackt gewesen waren. Und ihm war klar, so würde er Olivers Tod im Gedächtnis behalten.

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etzt endlich hatte er Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen und die bevorstehende Ankunft der Polizei mit den Menschen zu besprechen, die seiner Meinung nach das Recht hatten, zurate gezogen zu werden. Dass der Ort der Wahl das Wohnzimmer seiner Privatwohnung war, war eher auf stillschweigendes Einverständnis als auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen. Er hatte gesagt: »Wir müssen uns jetzt unterhalten, ehe die Polizei eintrifft. Wir sollten irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind. Ich werde Adrian bitten, im Büro zu bleiben. Er schafft das schon. Wir nehmen keine Anrufe entgegen.« Er hatte sich an Staveley gewandt. »Ihr Cottage oder meine Wohnung, Guy?«
Staveley hatte geantwortet: »Es wäre wohl besser, im Haus zu bleiben. Dann sind wir hier, wenn die Polizei eintrifft.«
Maycroft bat Boyde, Mrs. Plunkett anzurufen und ihr auszurichten, sie solle Suppe, Sandwiches und Kaffee nach oben in seine Wohnung bringen, und gemeinsam begaben sie sich zum Aufzug. Auf dem Weg ins oberste Stockwerk des Turms sagte keiner ein Wort.

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n seinem Wohnzimmer angekommen, schloss Maycroft die Tür, und sie nahmen Platz, Emily Holcombe auf dem Zweisitzersofa mit Guy Staveley neben sich. Er selbst rückte einen der Kaminsessel so, dass er ihnen gegenübersaß, eine Bewegung, die in dieser Umgebung normalerweise familiär und gemütlich gewirkt hätte, diesmal aber etwas Selbstherrliches an sich hatte. Das eigene Wohnzimmer, in dem sie drei schon so oft zusammengesessen hatten, schien ihm einen beunruhigenden Augenblick lang so fremd und vergänglich wie ein Hotelhalle. Es war gänzlich mit vertrauten Stücken möbliert, die er aus dem Empfangszimmer seiner Frau mitgenommen hatte: die bequemen Chintzsessel und das Sofa, die passenden Vorhänge, der ovale Mahagonitisch mit den silbergerahmten Hochzeitsfotos und dem Bild ihres Sohns, die feinen Porzellanfigürchen, die offensichtlich amateurhaften Aquarelle vom Lake District, die ihre Großmutter gemalt hatte. Er hatte all dies wohl in der Hoffnung mitgebracht, die ruhigen Abende nachempfinden zu können, die er und Helen gemeinsam erlebt hatten. Nun aber erkannte er verstört, wie sehr ihm schon immer jedes einzelne Detail dieser feminin überladenen, plüschigen Häuslichkeit missfallen hatte.
Er blickte zu seinen Gästen hinüber und fühlte sich so unzulänglich wie ein gesellschaftlich unerfahrener Gastgeber. Guy Staveley saß kerzengerade da wie ein Fremder, der sich darüber im Klaren ist, wie ungelegen sein Besuch kommt. Emily Holcombe hatte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas gelegt und wirkte ruhig und gelassen wie stets. Sie trug eine schwarze Hose, Stiefel, einen weiten rehbraunen Pullover aus feiner Wolle und lange Bernsteinohrringe. Maycroft war erstaunt, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, sich umzuziehen, allerdings hatten er und Staveley dasselbe getan, vermutlich aufgrund der tief verwurzelten Vorstellung, dass samstägliche Freizeitkleidung angesichts des Todes unpassend wäre.
Als er begann, schwang in seiner Stimme unüberhörbar ein Anflug von verkrampfter Jovialität mit: »Was darf ich anbieten? Ich hätte Sherry da, Whisky, Wein, das Übliche.«

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arum, so fragte er sich, hatte er das gesagt? Die beiden wussten sehr gut, was zur Wahl stand. Emily Holcombe entschied sich für Sherry, Staveley - erstaunlicherweise - für einen Whisky. Maycroft hatte kein Wasser bereitstehen, murmelte eine Entschuldigung und verschwand in seiner kleinen Küche, um welches zu holen. Er kam zurück, machte die Drinks fertig und goss sich selbst ein Glas Merlot ein. Er sagte: »Um halb eins gab es im Speiseraum des Personals ein warmes Mittagessen für alle, die etwas herunterbringen konnten. Ich hielt es für besser, uns Essen hochbringen zu lassen. Die Sandwiches müssten gleich kommen.«
Mrs. Plunkett hatte das richtige Gespür. Fast im selben Moment klopfte es an der Tür, und Guy Staveley machte auf. Die Köchin schob einen Servierwagen herein, auf dem sich Teller, Tassen und Untertassen, Krüge und zwei große Thermosflaschen befanden sowie auf dem unteren Brett zwei mit Servietten bedeckte Teller. Maycroft sagte leise: »Danke sehr«, und sie sahen zu, wie das Essen und das Geschirr von Mrs. Plunkett so ehrfürchtig verteilt wurden, als nähme sie an einer religiösen Zeremonie teil. Es hätte Maycroft nicht verwundert, wenn sie noch rasch einen Knicks gemacht hätte, als sie die Tür erreichte.
Er ging zum Tisch und nahm die feuchten Servietten von den Tellern. »Anscheinend größtenteils Schinken, aber auch Ei und Kresse, wenn Ihnen nicht nach Fleisch zumute ist.«

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mily Holcombe sagte: »Ich kann mir nichts weniger Ansprechendes vorstellen. Wieso macht einen nur ein gewaltsamer Tod so hungrig? Vielleicht ist hungrig nicht ganz das richtige Wort - nahrungsbedürftig, allerdings mit dem Trieb nach etwas Pikantem. Was ist in den Thermosflaschen? Suppe, hoffe ich, oder doch der Kaffee?« Sie stand auf, nahm eine der Flaschen, drehte den Deckel ab und schnupperte. »Hühnersuppe. Einfallslos, aber nahrhaft. Die kann warten. Wir müssen erst klären, für welche Taktik wir uns entscheiden. Viel Zeit bleibt uns nicht.«
»Welche Taktik?« Das Befremden über ihre Wortwahl stand im Raum.

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mily Holcombe schien einzusehen, dass die Formulierung unangemessen war und sagte: »Wie wir Commander Dalgliesh und seinen Leuten begegnen wollen. Ich vermute, dass er Mitarbeiter dabeihaben wird.«
Rupert Maycroft erklärte: »Ich rechne mit drei. Die Metropolitan Police hat angerufen und gesagt, dass er einen Detective Inspector und einen Sergeant mitbringt, mehr nicht.«
»Das ist aber eine ziemlich hochrangige Truppe, oder? Ein Commander der Londoner Metropolitan Police und ein Detective Inspector. Wieso nicht die hiesige Polizei? Die wird doch sicherlich informiert worden sein.«
Mit dieser Frage hatte Maycroft gerechnet, und er war vorbereitet. »Ich denke, wegen der Bedeutung des Opfers und weil der Stiftungsrat größtmögliche Diskretion und Ungestörtheit wünscht. Was immer Dalgliesh tut, es wird wohl kaum so viel Aufregung und öffentliches Aufsehen verursachen, wie das bei einem Einsatz der hiesigen Polizei unvermeidlich wäre.«

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mily Holcombe wandte ein: »Das reicht mir nicht, Rupert. Wie hat die Metropolitan Police überhaupt erfahren, dass Oliver tot ist? Vermutlich haben Sie doch dort angerufen. Warum haben Sie nicht die Polizei von Devon und Cornwall verständigt?«
»Weil ich, liebe Emily, Anweisungen habe, eine Londoner Telefonnummer zu wählen, sollte es auf der Insel zu gravierenden Vorfällen kommen. Soweit ich weiß, wurde das schon immer so gehandhabt.«
»Ja, aber was für eine Nummer? Wessen Nummer?«
»Mir wurde nicht gesagt, wessen Nummer das ist. Meine Anweisungen lauteten, die Angelegenheit zu melden und sonst nichts weiter. Es tut mir Leid, Emily, das entspricht eben langjährigen Gepflogenheiten, und ich beabsichtige, mich daran zu halten. Ich habe mich daran gehalten.«
»Langjährig? Ich höre zum ersten Mal davon.«
»Wahrscheinlich, weil es noch nie zu einer Krise dieser Größenordnung gekommen ist. Es ist eine absolut vernünftige Vorgehensweise. Sie wissen besser als die meisten, wie wichtig manche unserer Gäste sind. Sinn und Zweck dieses Vorgehens ist es, auf eventuelle gravierende Vorfälle effektiv, rasch und mit größtmöglicher Diskretion reagieren zu können.«
Emily Holcombe sagte: »Ich vermute, Dalgliesh wird uns gemeinsam vernehmen wollen, ich meine uns alle, Gäste und Personal.«

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aycroft entgegnete: »Ich habe wirklich keine Ahnung. Zuerst gemeinsam und später einzeln, könnte ich mir vorstellen. Ich habe dem Personal Bescheid gegeben, sich hier im Haus zur Verfügung zu halten. Das schien mir ratsam. Die Bibliothek ist dafür am besten geeignet. Selbstverständlich wird der Commander auch die Gäste vernehmen müssen. Ich fand es unangemessen, Miranda Oliver zu behelligen, und sie und Dennis Tremlett sind noch in ihrem Cottage. Sie hat deutlich gemacht, dass sie niemanden sehen möchte.«
Emily Holcombe sagte: »Außer Tremlett, vermutlich. Übrigens, wie hat Miranda die Nachricht aufgenommen? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.08.2006