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Und er hat nicht richtig gefrühstückt.Miranda sagt, er hat sich Tee gemacht. Die Kanne sei noch warm gewesen, als sie in die Küche kam. Oliver hat wohl bloß eine Banane gegessen. Vielleicht stellt er sich ja nur an, jedenfalls macht Miranda sich Sorgen.«
Dann war seine Vorahnung also berechtigt gewesen. Wieder ein Problem. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass Oliver etwas zugestoßen war. Falls der Mann lediglich beschlossen hatte, anderen Ungelegenheiten zu bereiten, indem er den Termin verpasste und stattdessen lieber spazieren ging, würde es ihn erst recht aufbringen, wenn sie anfingen, nach ihm zu suchen. Und das mit Recht. Eine Grundregel auf der Insel lautete, dass Besucher in Ruhe gelassen wurden. Andererseits war Oliver kein junger Mann mehr. Und er war seit fast zwei Stunden ohne jede Erklärung verschwunden. Was, wenn er irgendwo lag, niedergestreckt von einem Schlaganfall oder Herzinfarkt? Wie sollte er, Maycroft, der hier zu entscheiden hatte, seine Untätigkeit rechtfertigen?
Also sagte er: »Wir sollten nach ihm suchen. Sagen Sie bitte Guy Bescheid. Ich rufe ein paar Leute an. Wir treffen uns hier. Sie bleiben am besten in der Praxis und geben mir Bescheid, falls er auftaucht.«

E
r legte den Hörer auf und wandte sich an Boyde. »Oliver ist verschwunden. Er hätte um neun zum Blutabnehmen in der Praxis sein sollen und ist dort nicht aufgetaucht.«
Boyde seufzte: »Miranda macht sich bestimmt Sorgen. Ich könnte bei ihr vorbeischauen und dann die Nordostseite der Insel absuchen.«
»Tun Sie das bitte, Adrian. Und wenn Sie ihn finden, spielen Sie die Sache runter, ja? Falls er Angst vor dem Blutabnehmen bekommen hat, wäre ihm ein Suchtrupp bestimmt furchtbar peinlich.«
Fünf Minuten später hatte sich, telefonisch alarmiert, eine kleine Gruppe vor dem Haus versammelt. Der stets unkooperative Roughtwood hatte Adrian erklärt, er sei zu beschäftigt, um bei der Suche zu helfen. Doch Dr. Staveley, Dan Padgett und Emily Holcombe, die um Viertel nach neun zur jährlichen Grippeimpfung in die Praxis gekommen war, hatten sich eingefunden. Jago war von seinem Cottage aus aufgebrochen, aber noch nicht eingetroffen. Das Grüppchen wartete auf Anweisungen von Maycroft. Er riss sich zusammen und überlegte, was ihre nächsten Schritte sein sollten.

U
nd dann kam Nebel auf, so unvermutet und kapriziös wie immer auf Combe Island. An manchen Stellen war er kaum mehr als ein durchscheinender Schleier, an anderen verdichtete er sich zu einer feuchten, undurchdringlichen Wand, die das Blau des Meeres verhüllte, den wuchtigen Turm von Combe House in einen düsteren Schemen verwandelte, unsichtbar, aber präsent. Die zarte rote Kuppel auf der Spitze des Leuchtturms schwebte isoliert, wie eine seltsame Erscheinung, frei im Raum.
Als der Nebel immer dichter wurde, sagte Maycroft: »Es hat keinen Sinn, weit zu gehen, solange sich diese Suppe nicht verzogen hat. Wir schauen am Leuchtturm nach, mehr nicht.«

S
ie machten sich gemeinsam auf den Weg, Maycroft führte. Hinter sich vernahm er gedämpfte Stimmen, doch allmählich verschwanden die Gestalten in dem undurchdringlichen Nebel, und die Stimmen wurden leiser und verklangen. Erschreckend unvermutet tauchte der Leuchtturm vor ihm auf, die konkave Säule verlor sich über ihm im Nichts. Als er aufschaute, wurde ihm kurz schwindelig, doch er wollte sich nicht an der feucht glänzenden Oberfläche abstützen, weil er fürchtete, das ganze Gebäude könnte unwirklich wie ein Traum erzittern und sich im Nebel auflösen. Die Tür war angelehnt. Er drückte behutsam gegen das schwere Eichenholz und griff nach dem Lichtschalter. Ohne Zögern stieg er die erste Treppe hinauf durch das Brennstofflager und die zweite bis zur Hälfte. Er rief Olivers Namen, zuerst leise, als fürchtete er, die nebelverhangene Stille zu stören. Dann irritierte ihn die Sinnlosigkeit seiner halbherzigen Versuche. Er blieb stehen und rief laut in das Dunkel. Es kam keine Antwort, und er sah kein Licht. Er ging wieder hinunter, verharrte in der offenen Tür und verkündete laut in den Nebel: »Hier scheint er nicht zu sein. Bleibt, wo ihr seid.«

K
eine Antwort. Er sprach in ein feuchtes, dumpfes Weiß. Ohne nachzudenken und ohne eigentlich zu wissen warum, ging er um den Leuchtturm herum zur Meerseite, trat an die Seemauer und hob den Blick, dankbar für das harte Granitgestein in seinem Rücken.
Und da begann der Nebel, so unerklärlich wie er gekommen war, sich zu lichten. Dünne Schleierfetzen trieben um den Leuchtturm herum, rissen ab und verflogen. Allmählich offenbarten sich Formen und Farben, das Geheimnisvolle, Unfassbare wurde vertraut und real. Und dann sah er es. Sein Herz tat einen Sprung und begann so fest zu pochen, dass sein Körper erzitterte. Bestimmt hatte er geschrien, doch er hörte keinen Laut außer dem wilden Kreischen einer einzelnen Möwe. Allmählich wurde das Grauen deutlicher, zuerst hinter einem hauchdünnen Nebelschleier und schließlich mit absoluter Klarheit. Farben kehrten zurück, greller, als er sie in Erinnerung hatte - die glänzende Mauer, die hohe rote Laterne mit dem weißen Geländer drum herum, die blaue Weite des Meeres, der Himmel so klar wie an einem Sommertag.

U
nd hoch oben vor dem Weiß des Leuchtturms ein hängender Körper: der blaurote Faden des Kletterseils straff am Geländer befestigt, der Hals fleckig und überdehnt wie bei einem gerupften Truthahn, der Kopf grotesk groß und zur Seite geknickt, die Hände mit den Handflächen nach außen gedreht zu einem perversen Segen. Der Körper trug Schuhe, und doch meinte Maycroft eine wirre Sekunde lang, die baumelnden Füße nebeneinander in kläglicher Nacktheit zu sehen.
Ihm war, als verstrichen Minuten, aber er wusste, dass die Zeit stillstand. Und dann hörte er einen hohen anhaltenden Schrei. Als er nach rechts blickte, erkannte er Jago und Millie. Das Mädchen starrte zu Oliver hinauf und schrie so anhaltend, als müsste sie nie Atem holen.
Und jetzt kam der Suchtrupp um die Rundung des Leuchtturms. Er konnte keine Worte ausmachen, nur eine konfuse Sinfonie aus Stöhnen, leisen Aufschreien, Rufen, Ächzen und Wimmern brachte die Luft zum Vibrieren, eine gedämpfte Totenklage, schrecklicher noch durch Millies Schrei und das jähe, wilde Kreischen der Möwen.

Buch zweiAsche im Kamin1
Es war kurz vor ein Uhr, und Rupert Maycroft, Guy Staveley und Emily Holcombe waren zum ersten Mal seit Auffinden der Leiche miteinander allein. Auf Maycrofts Bitte war Emily Holcombe vom Atlantic Cottage herüber ins Combe House gekommen. Denn als sie gemerkt hatte, dass ihre Versuche, Millie zu trösten, die geräuschvolle Erschütterung des Mädchens nur weiter verschlimmerten, hatte sie erklärt, es sei offensichtlich am Sinnvollsten, das Mädchen der Obhut von Mrs. Burbridge zu übergeben. Dann würde sie an ihrer Stelle nach Hause gehen und Roughtwood zur Unterstützung schicken. Millie, die sich bei jeder Gelegenheit hysterisch an Jago klammerte, war sachte von ihm weggezogen und der untadeligen Mrs. Burbridge übergeben worden, die das Mädchen mit vernünftigen Ratschlägen und heißem Tee zur Ruhe gebracht hatte. Allmählich hatte sich ein Anschein von Normalität ergeben. Anweisungen mussten erteilt, Telefonanrufe getätigt, Mitarbeiter beruhigt werden. Maycroft wusste, dass er all dies getan hatte, noch dazu mit einer erstaunlichen Gelassenheit, aber er konnte sich weder genau an die Worte erinnern, die er gesagt hatte, noch an die Abfolge der Ereignisse. Jago war wieder zum Hafen zurückgekehrt, und Mrs. Plunkett, die auf Arbeit wartete, hatte begonnen, das Mittagessen vorzubereiten und Sandwiches zu machen. Joanna Staveley war bei Miranda im Peregrine Cottage, aber ihr Mann Guy, ganz grau im Gesicht, war Maycroft nicht von der Seite gewichen, sprach und bewegte sich wie ein Roboter und bot keine wirkliche Hilfe.

E
s kam Maycroft so vor, als wäre die Zeit zerstückelt worden, als hätte er die letzten zwei Stunden nicht als Kontinuum, sondern als eine Serie unverbundener, einprägsamer Szenen erlebt, jede so unmittelbar und unauslöschlich wie eine Fotografie. Adrian Boyde, wie er neben der Trage stand und auf Olivers Leichnam herabblickte, dann langsam die rechte Hand hob, als zöge ein Gewicht an ihm, und das Kreuzzeichen machte. Er selbst mit einem schweigenden Guy Staveley auf dem Weg zum Peregrine Cottage, um Miranda die Nachricht beizubringen, die er sich im Geiste Wort für Wort zurechtlegte. Sie waren eins wie das andere unzulänglich gewesen, banal, sentimental und brutal deutlich: aufgehängt, Strick, tot. Mrs. Plunkett, wie sie mit grimmigem Gesicht Tee aus einer riesigen Kanne ausschenkte, die er seiner Erinnerung nach nie zuvor gesehen hatte. Dan Padgett, der sich am Fundort zunächst vernünftig benommen hatte, wie er plötzlich hören wollte, dass es nicht seine Schuld sei und Mr. Oliver sich nicht wegen der verlorenen Blutprobe umgebracht hatte, dazu seine eigene gereizte Reaktion. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.08.2006