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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jacobs


Sommerzeit ist »Gast-Zeit«. Viele Menschen sind in ihrem Urlaub in anderen Gegenden zu Gast, einige sogar im Ausland. Aber Gäste kommen auch zu uns zu Besuch. Kinder verbringen häufig eine Woche bei den Großeltern. Auch in Ostwestfalen steigt die Belegung durch Sommergäste in den Pensionen deutlich an.
Es lohnt sich deshalb, über die Zusammenhänge von Gast und Gastgeber nachzudenken, denn sie sind nicht ohne religiöse Beiklänge.
Das klassische biblische Motiv zum Geheimnis des Gastes ist der Besuch von drei Männern bei Abraham und Sahara (18. Kapitel des Buches Genesis). Diese unbekannten drei Personen, die das alternde Ehepaar in der glühenden Sommerhitze aufsuchen, werden zunächst aus reiner Freude an der durch Gäste entstehenden Abwechslung herzlich eingeladen und bewirtet. Erst im weiteren Verlauf der gastfreundlichen Umsorgung stellt sich heraus, dass diese drei Gäste die erlösende Botschaft von der Geburt eines Kindes mitbringen. Sie waren also Boten Gottes, sie waren Engel gewesen.
Viele Lieder greifen dieses Motiv auf. Auf dem letztjährigen Weltjugendtag in Köln war ein Lied unter den beliebtesten, das von den Gästen sprach, die man erst am Ende der Tage als Engel erkennen würde. Die Hunderttausende christlichen Jugendlichen in den gastgebenden Gemeinden versuchten so den eigentlichen geistlichen Hintergrund ihrer millionenstarken Besucherschaft aus aller Herren Länder in Musik zu fassen. In der Ikonenmalerei findet diese Abrahamserzählung in der weltberühmten Darstellung von Rubljew ihren unübertroffenen Ausdruck, der drei Engel mit Wanderstab als Sinnbild der unerwarteten Begegnung mit dem dreifaltigen Gott den Betrachtern vor Augen stellte.
Tatsächlich ist ein Gast immer etwas Besonderes. Es ist ein Mensch, der seine eigenen schützenden und vertrauten Bedingungen verlassen hat und sich einem anderen Menschen anvertraut. Ein Gast ist deshalb immer etwas hilfloser als der Gastgeber. Gäste kennen sich nicht so gut aus, sie fragen nach dem Weg, sie sind mit lokalen Gepflogenheiten nicht so gut vertraut. Eine Kultur zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, welchen besonderen Schutz sie Fremden und eben Gästen verschafft.
Ein Gast ist aber auf der anderen Seite eine großartige Bereicherung des Lebens. Selbstverständlich können Gäste irgendwann anstrengend werden, zunächst einmal jedoch durchbrechen sie die eingefahrenen Bahnen der geschlossenen kleinen Welt eines jeden Gastgebers und einer jeden Gastgeberin. Da wird Neues erzählt, da werden andere Gesprächsthemen bei Tisch angeschnitten, da gelten plötzlich nicht mehr die über Jahre schon eingefahrenen Rollenverteilungen im Haus. Und wer sein Bad plötzlich mit anderen teilen muss, wird von selbst wieder etwas weniger anspruchsvoll - denn fast immer haben tatsächlich wesentlich mehr Leute »in der kleinsten Hütte Platz«, als man lange Zeit meinte.
Gerade das Alte Testament sieht in dieser Mischung aus Schutzbedürftigkeit eines Gastes und dem Neuen, was Gäste in die eingefahrenen Verhältnisse bei den Gastgebern bringen können, eine bevorzugte Offenbarungsform Gottes. Gäste verhalten sich anders, sie haben etwas zu sagen; und wie sie sind und was sie sagen. . . könnte es nicht auch ein Hinweis Gottes an mich selbst sein?
Die bewusste Spitze dieses Verständnisses hat das Christentum in verschiedenen Bräuchen geschaffen, die mit Mahlzeiten zusammenhängen. Denn das Speisen der Hungrigen und das Stillen des Durstes bei den Durstigen hatte Jesus ausdrücklich als Handlungen genannt, die in verborgener Weise an ihm selbst vollzogen werden (Mt. Kap. 25). Und damit entsteht eine paradoxe Situation: Denn Gott ist einerseits Geber aller Gaben, die wir Menschen überhaupt kochen, zubereiten und verzehren können. Auf der anderen Seite ist er dann als Gast auch noch wieder der besondere Empfänger. Sehr vielen Christen sind entsprechende Tischgebete seit Kindesbeinen bekannt: »Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Gott ist also gewissermaßen doppelt anwesend: als hintergründiger eigentlicher Gastgeber und als Gast.
Dass viele Christen bis heute gerade zu hohen christlichen Festen auf den gedeckten Tisch auch noch ein leeres Gedeck für den immer erhofften »Gast Jesus« stellen, verleiht dieser Überzeugung einen sinnfälligen Ausdruck.
Sommerzeit ist Gast-Zeit. Damit ist es eine Zeit, die besonders viele solcher Erfahrungen mit fremden Menschen bereit hält, die sehr viel mehr Hintergrund haben können, also wir oft auf den ersten Blick meinen.

Artikel vom 22.07.2006