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Eingespannt zwischen Patient und Papierkram

Ein Arbeitstag im Leben von Dr. Jens Brüntrup

Von Michael Diekmann (Text und Fotos)
Bielefeld (WB). »Für uns geht es nicht um 20 Prozent mehr, sondern in erster Linie überhaupt darum, den jetzigen Stand zu halten«, sagt Dr. Jens Brüntrup (36): »Für uns ist diese Aktion jetzt ungeheuer wichtig.« Um Verständnis für die vom Marburger Bund organisierten Streikaktionen der Ärzte muss der Oberarzt der Orthopädischen Klinik Bielefeld Mitte nicht lange werben. Die meisten Patienten haben vollstes Verständnis.

Samstag kurz vor Mittag sitzt der Mediziner in seinem kleinen Büro. Erdgeschoss rechts. Auf dem Plan steht Administration. Brüntrup wälzt Akten. Die Visite am Samstag hat er schon erledigt. Oben im Haus in der Orthopädischen Klinik liegen 50 Patienten stationär. Für den Mediziner ist so etwas wie Halbzeit eines »ganz normalen« Wochenendes, einer fast normalen Woche, die erst mit dem ersten Streiktag am Donnerstag anders wurde.
»Wir haben alles nachgearbeitet«, sagt Brüntrup. Weil er am Vormittag drei Stunden am Demozug zum Jahnplatz teilgenommen hatte, dauerte sein Dienst am Abend noch bis 21.30 Uhr. Auf dem Programm: Ein komplizierter Hüftprothesenausbau. »Absolut schweißtreibend, trotz Klimaanlage im OP«, erzählt der erfahrene Mediziner.
Freitag startete der Familienvater um sieben mit dem Rad in die Klinik. Weil er gleich um die Ecke wohnt, kann er noch mit Ehefrau Verena frühstücken, den kleinen Mattis (3) sehen und Nesthäkchen Sina. Für das gerade zehn Wochen junge Mädchen bekommt Brüntrup keinen Kinderzuschlag mehr: »Nur eine der zahlreichen Ärgernisse in den bestehenden Tarifabkommen.« Kurz nach sieben legt Brüntrup eine Runde im Büro ein. Die Damen des Sekretariats sind da unnachgiebig, klagt der Orthopäde, der sich seinen Wunschberuf wegen der medizinischen Anforderungen erfüllte, stattdessen jetzt aber bis zu 40 Prozent der Zeit nicht an Patientenbett und OP-Tisch verbringt, sondern am Schreibtisch. Gutachten, Berichte, Korrespondenz mit Trägern, Häusern, Kollegen und Instanzen. Trotz PC immer mehr Papier, und immer neue Akten, immer neue Fälle.
Genau 20 Minuten bleiben um 7.30 Uhr für die Besprechung mit dem Oberarzt-Kollegen und dem Chef. Am Tisch mit Prof. Dr. Ludger Bernd wird die Strategie des Tages festgelegt. Und der OP-Plan für Montag. Um 8 Uhr steht Brüntrup an diesem Freitag selbst im OP. Die nächste »Schicht« erfolgt in sterilem Grün: eine Vorfuß-OP, eine Knieprothese, eine Sprunggelenksstabilisierung. Kurz vor 13 Uhr ist Brüntrup aus dem OP zurück in der orthopädischen Ambulanz im Erdgeschoss. Verschnaufen bei einem Kaffee mit viel Milch.
Wie lange der Tag heute dauert in der Klinik? »Kann man nicht genau sagen.« Einkaufen wird Ehefrau Verena wie immer allein. Dafür hat Brüntrup um Viertel vor zwei noch ein Gespräch mit dem Chef. Um 14 Uhr hat sich der Wartebereich in der Ambulanz schlagartig gefüllt. Ingeborg Weber, die Chefsekretärin und »gute Seele« der Fachklinik, organisiert den Ablauf. Brüntrup »springt« schnell noch einmal auf die Station, eine Patientin anschauen.
Kurz nach 14.30 Uhr beginnen die Gespräche, Wer am Montag einen OP-Termin hat, ist am Freitag noch einmal einbestellt. Abstimmen, koordinieren und noch einmal alles besprechen. Knie, Hüfte, Meniskus... Jeder Patient kommt mit einem Problem. Brüntrup und sein OP-Team werden sie alle lösen. Montag ab sieben Uhr früh.
Wie ausgeruht der Bielefelder dann ist, vermag er am Samstag noch nicht zu sagen. Am Wochenende hat er Rufbereitschaft. »Und das die nächsten Wochenenden bis Anfang August«, erklärt Brüntrup auch den Grund: »Bei zwei Leitenden Oberärzten hat man eben jedes zweite Wochenende Dienst. Weil der Kollege aber in den Ferien ist, bin ich jedes Wochenende dran.« Rufbereitschaft, das bedeutet Visite am Samstag und Visite am Sonntag, bedeutet immer erreichbar zu sein, in Notfällen umgehend vor Ort zu sein. Kein gemütliches Bier am Abend, kein Grillvergnügen mit Freunden, keine Mountain-Bike-Tour, um den Kopf frei zu bekommen. Kein Ausflug und kein Freibadbesuch. Dafür aber Handy und Pieper immer dabei.
Jens Brüntrup liebt seinen Beruf. Er hat von den unbequemen Seiten gewusst. Er sagt aber auch, wieviel es ihm bedeutet, Menschen mit Problemen am Bewegungsapparat durch seine Eingriffe wieder mehr Lebensqualität zu geben. Ehefrau Verena ist ebenfalls vom Fach. Er lernte die Krankenschwester in Münster kennen. Dass sie im Job pausieren würde, wenn man eine Familie plant, war irgendwie klar. Gleichsam hat Brüntrup Verständnis, dass sie irgendwann zurück möchte und auch im Krankenhaus Dienst am Patienten machen: »Aber mit den gegenwärtigen Arbeitszeiten ist das kaum möglich.«
Eine Fahrt zur Kundgebung des Marburger Bundes morgen wird es für Brüntrup nicht geben. Als einziger Oberarzt hat er mit dem Chef »Stallwache«, wird alle anfallenden Arbeiten übernehmen. Und auch dann wird den sympathischen Mediziner auszeichnen, was ihn an jedem einzelnen Werktag bei noch so argem Stress und noch so engem OP-Plan auszeichnet: »Patienten dürfen von allem Stress nichts spüren. Auch nach 36 Stunden muss ein Klinikarzt noch aufgeschlossener und kompetenter Gesprächspartner sein für seine Patienten.«

Artikel vom 24.07.2006