14.08.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



2Der »Twin Squirrel«-Hubschrauber dröhnte über Südengland hinweg, sein Schatten huschte über die herbstlichen Felder wie ein bedrohlicher, allgegenwärtiger Vorbote nahenden Unheils. Das unbeständige und für die Jahreszeit ungewöhnliche Wetter der letzten Woche hielt an. Von Zeit zu Zeit ballten sich dunkle Wolken über ihnen und luden mit derart konzentrierter Wucht ihre Last ab, dass es schien, als bohre sich der Hubschrauber förmlich durch eine Wasserwand. Dann verschwanden die Wolken plötzlich, und die regennassen Felder lagen unter ihnen, in milden hochsommerlichen Sonnenschein getaucht. Die Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitete, war so adrett wie eine handgearbeitete Patchworkdecke, die Waldflächen aus sattgrüner Bouclé-Wolle, die Felder aus Leinen, manche in gedämpften Brauntönen, andere blassgolden und grün, und die gewundenen Landstraßen und Flüsse wie Streifen aus glänzender Seide. Die Städtchen mit ihren gedrungenen Kirchtürmen waren Wunderwerke der Kunststickerei. Dalgliesh blickte zu seinem Nachbarn hinüber und beobachtete, wie Benton-Smiths Augen fasziniert auf das wechselnde Panorama starrten. Er fragte sich, ob dieser es ähnlich gemustert und geplant wahrnahm oder ob Benton-Smith in seiner Fantasie über eine weite, nicht so grüne und nicht so exakt von Menschenhand gezähmte Landschaft hinwegglitt.

D
algliesh bedauerte es keineswegs, Benton-Smith in sein Dezernat geholt zu haben. Der junge Mann brachte die Qualitäten mit, die Dalgliesh bei einem Detective schätzte: Intelligenz, Mut und gesunden Menschenverstand, was eine seltene Kombination war. Er hoffte, dass Benton-Smith auch über genügend Sensibilität verfügte, doch diese Eigenschaft war nicht so leicht einzuschätzen; die Zeit würde es an den Tag bringen, ganz sicher. Ein wenig Sorge bereitete ihm die Frage, wie Kate und Benton-Smith jetzt, da Piers Tarrant nicht mehr dabei war, miteinander auskommen würden. Sie mussten sich nicht unbedingt mögen, sie mussten einander jedoch respektieren und auf kollegialer Ebene kooperieren. Aber Kate war ebenfalls intelligent. Sie wusste, dass offene Feindseligkeit eine Ermittlung massiv beeinträchtigen konnte. Er durfte alles Weitere vertrauensvoll ihr überlassen.

E
r warf einen Blick zu ihr hinüber. Sie las mit einer entschlossenen Intensität, für die er viel Verständnis hatte, ein dünnes Taschenbuch, Ein Krokodil für Mma Ramotswe von Alexander McCall Smith. Kate verabscheute Hubschrauber. Ein Rumpf mit Flügeln bot dem Unterbewusstsein zumindest das beruhigende Gefühl, dass diese vogelähnliche Maschine dazu bestimmt war zu fliegen. Jetzt saßen sie eng zusammengepfercht in einem lärmenden Apparat, der nicht aussah, wie das minutiös geplante Werk von Konstrukteuren, sondern als wäre er irgendwie zusammengeschustert worden in dem wahnsinnigen Versuch, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Kate hielt die Augen auf das Buch gerichtet und blätterte nur gelegentlich um, weil sie sich weniger auf die Heldentaten der sanften und liebenswerten botswanischen Detektivin konzentrierte, sondern vielmehr auf die griffbereit daliegende Schwimmweste, die ohnehin wahrscheinliche nutzlos war. Schließlich rechnete Kate damit, dass der Hubschrauber bei einem Motorschaden vom Himmel fiele wie ein Stein.

J
etzt, während dieses geräuschvollen Intermezzos zwischen Einsatzbefehl und Ankunft, wandte Dalgliesh seine Gedanken von beruflichen Sorgen ab und widmete sich einer persönlichen und schwieriger zu bewältigenden Angst. Nicht mündlich hatte er Emma Lavenham erstmals seine Liebe gestanden, sondern in einem Brief. War das nicht ein feiges Ausweichmanöver gewesen, ersonnen in dem Wunsch, nicht die Zurückweisung in ihren Augen sehen zu müssen? Es hatte keine Zurückweisung gegeben. Die gemeinsame Zeit, die sie ihren hektischen Einzelleben abrangen, das schiere, nahezu beängstigende Glück: die sexuelle Intensität, die abwechslungsreiche und unkomplizierte Leidenschaft füreinander, die sorgsam geplanten Stunden, bei denen sie keine weitere Gesellschaft brauchten im Restaurant, Theater, Museum oder Konzert. Die zwanglosen Mahlzeiten in seiner Wohnung, Auge in Auge mit einem Drink auf dem schmalen Balkon, unter dem die Themse fünfzehn Meter tiefer am Mauerwerk leckte. Die Gespräche und die Stille, die mehr war als nur die Abwesenheit von Worten. So sah das Wochenende aus, das sie jetzt eigentlich miteinander verbringen sollten. Aber diese Enttäuschung war nicht die erste - seine Arbeit hatte Vorrang. Sie waren an das gelegentliche Scheitern ihrer Pläne gewöhnt, das nur den Triumph der nächsten Begegnung steigerte.
Ihm war nur zu bewusst, dass dieses von den Wochenenden bestimmte Leben kein Zusammenleben war, doch er hegte unterschwellig die Befürchtung, dass Emma damit zufrieden war. Sein Brief war eindeutig ein Heiratsantrag gewesen, keine Aufforderung zu einer lockeren Liebesbeziehung. Sie hatte, so glaubte er, den Antrag angenommen, allerdings war danach zwischen ihnen von Heirat nie mehr die Rede gewesen. Er versuchte herauszufinden, warum ihm daran dermaßen gelegen war. Hatte er Angst sie zu verlieren? Was, wenn ihre Liebe ohne Trauschein nicht überleben konnte, welche Zukunft hatte sie dann überhaupt? Und welches Recht hatte er, Emma an sich binden zu wollen? Er hatte nicht den Mut aufgebracht, das Thema Heirat anzusprechen, und seine Feigheit mit dem Gedanken entschuldigt, dass es ihr Vorrecht sei, das Datum zu bestimmen. Aber er wusste, vor welchen Worten ihm graute: »Ach, Darling, warum die Eile? Müssen wir das jetzt entscheiden? Es ist doch alles wunderbar, wie es ist.«

E
r zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück, und als er in die Tiefe blickte, hatte er das altbekannte trügerische Gefühl, dass eine Stadtlandschaft sich ihm entgegen hob. Sie landeten sanft auf dem Heliport in Newquay, und als die Rotorblätter zum Stillstand kamen, lösten sie die Sicherheitsgurte. Sie rechneten mit ein paar Minuten Aufenthalt und wollten sich ein wenig die Beine vertreten. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Dr. Glenister trat fast im selben Augenblick aus der Abfluglounge und kam resolut auf sie zu, eine Handtasche über der Schulter, und einen braunen Arztkoffer in der Hand. Sie trug eine schwarze Hose, die in hohen Lederstiefeln steckte, und eine eng geschnittene Tweedjacke. Als sie näher kam und aufblickte, sah Dalgliesh in ein blasses, fein geschnittenes und zartknochiges Gesicht, das fast gänzlich im Schatten eines recht verwegenen schwarzen Filzhutes mit breiter Krempe lag. Dr. Glenister kletterte an Bord, wehrte Benton-Smiths Versuch ab, ihre Taschen zu verstauen, und Dalgliesh stellte sich und seine Leute vor.
Dr. Glenister sagte zum Piloten: »Ersparen Sie mir das Getue mit den Sicherheitsvorkehrungen. Manchmal hab ich das Gefühl, mein ganzes Leben in diesen Dingern zu verbringen, ich bin zuversichtlich, dass ich auch in so einem Ding sterben werde.«
Sie hatte eine ungewöhnliche Stimme, eine der schönsten, die Dalgliesh je gehört hatte. Im Zeugenstand war das bestimmt eine wirksame Waffe. Er hatte des Öfteren vor Gericht die Gesichter von Geschworenen beobachtet, die vom Wohlklang einer menschlichen Stimme zu widerspruchsloser Akzeptanz verführt wurden. Die wenigen Happen an Information, die ihm über Dr. Glenister im Laufe der Jahre zu Ohren gekommen waren - meistens, nachdem sie in einem besonders skandalträchtigen Fall ausgesagt hatte -, waren interessant und erstaunlich detailliert gewesen. Sie war mit einem hohen Beamten verheiratet, der längst mit den üblichen Ehrungen in den Ruhestand gegangen war und nach einer lukrativen Zeit als Aufsichtsratsmitglied in London seine Tage inzwischen mit Segeln und dem Beobachten von Vögeln auf dem Orwell River verbrachte. Seine Frau hatte weder seinen Namen angenommen noch je seinen Titel benutzt. Warum sollte sie auch? Allein die Tatsache, dass die Ehe vier Söhne hervorgebracht hatte - die alle in ihren unterschiedlichen Berufen sehr erfolgreich waren -, ließ den Schluss zu, dass diese Ehe, wie distanziert sie auch wirken mochte, ihre intimen Augenblicke gehabt hatte.

E
ines hatten Dr. Glenister und Dalgliesh gemeinsam: Obwohl ihre Lehrbücher über forensische Pathologie allgemein auf große Anerkennung gestoßen waren, hatte sie nie erlaubt, dass ein Foto von ihr auf dem Umschlag erschien, und sich auch sonst an keinerlei Werbemaßnahmen beteiligt. Ebenso wenig wie Dalgliesh - was seine Verleger anfänglich sehr bedauert hatten. Herne & Illingworth, hart aber fair, wenn es um Autorenverträge ging, waren bekanntlich knallhart in geschäftlichen Dingen, sonst jedoch entwaffnend naiv und weltfremd. Seine Antwort auf ihr hartnäckiges Drängen auf Fotos, Signierstunden, Lesungen und andere öffentliche Auftritte war in seinen Augen eher eine Inspiration gewesen: Zum einen würde er damit die für seine Arbeit beim Yard erforderliche Diskretion gefährden, zum anderen bestünde das Risiko eines Racheaktes vonseiten der Mörder, die er überführt hatte und von denen die schlimmsten bald auf Bewährung entlassen würden. Seine Verleger hatten wissend und verständnisvoll genickt, und das Thema war vom Tisch.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.08.2006