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Obwohl sich die Gäste den Wagen bestellen konnten, war er offensichtlich zu Fuß vom Murrelet Cottage gekommen. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Er hatte Jo Staveley noch nicht kennen gelernt, und Maycroft stellte die beiden einander vor. Obwohl der Dinnergong erst in zwanzig Minuten ertönen sollte, verstrich die Zeit rasch. Jo entfaltete, wie immer in Gegenwart eines gut aussehenden Mannes, ihren ganzen Charme, und Staveley fand irgendwie heraus, dass er und Yelland in Edinburgh studiert hatten, wenn auch nicht wirklich gleichzeitig. Staveley kramte genug akademische Themen, gemeinsame Erfahrungen und Bekannte hervor, dass keine Stille entstand.

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s war kurz vor acht, und in Maycroft keimte schon die Hoffnung, dass Oliver es sich anders überlegt hätte, doch genau in dem Moment, als der Gong geschlagen wurde, öffnete sich die Tür, und er kam herein. Mit einem Nicken und einem knappen »guten Abend« in die Runde zog er seinen Mantel aus, legte ihn neben den von Yelland und folgte ihnen zur Aufzugtür. Gemeinsam fuhren sie die eine Etage zum Speisezimmer hinunter, das direkt unter der Bibliothek lag. Im Lift sprachen weder Oliver noch Yelland ein Wort, nahmen einander nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, wie Rivalen, die zwar die Regeln der Höflichkeit wahren, aber Worte und Energie für den bevorstehenden Kampf aufsparen.
Wie gewohnt hatte Mrs. Burbridge mit ihrer eleganten Schrift eine Speisekarte geschrieben. Zum Auftakt würde es Melonenbällchen in Orangensauce geben, gefolgt von Perlhuhn mit Pfannengemüse und schließlich ein Zitronensoufflé als Dessert. Der erste Gang war bereits aufgetischt worden. Oliver griff nach Löffel und Gabel und betrachtete seinen Teller, als ärgere es ihn, dass jemand seine Zeit damit verschwendet hatte, Melonenbällchen auszustechen. Die Unterhaltung verlief stockend, bis Mrs. Plunkett und Millie einen Servierwagen mit Perlhuhn und Gemüse hereinrollten. Der Hauptgang wurde serviert.
Mark Yelland nahm sein Besteck, machte aber keine Anstalten zu essen. Stattdessen stützte er die Ellbogen auf den Tisch, hob das Messer wie eine Waffe, warf einen Blick zu Nathan Oliver hinüber und sagte bedrohlich leise: »Ich vermute, ich bin mit dem Laborleiter in dem Roman gemeint, den Sie nächstes Jahr rausbringen wollen, eine Figur, die Sie ganz bewusst so arrogant und gefühllos gestaltet haben, wie es nur ging, wollten Sie den Mann nicht völlig unglaubwürdig machen.«

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hne von seinem Teller aufzublicken, erwiderte Oliver: »Arrogant, gefühllos? Wenn man Ihnen das nachsagt, könnte in der öffentlichen Wahrnehmung vermutlich eine gewisse Verwirrung entstehen. Für meine Wahrnehmung gilt das nicht, das kann ich Ihnen versichern. Ich bin Ihnen noch nie begegnet. Ich kenne Sie nicht. Ich habe auch nicht unbedingt den Wunsch, Sie kennen zu lernen. Ich plagiiere das Leben nicht. Ich brauche nur ein einziges lebendes Modell für meine Kunst: mich selbst.«
Yelland legte Messer und Gabel hin. Seine Augen ruhten weiterhin auf Oliver. »Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie sich mit einem jungen Mitarbeiter aus meinem Team getroffen haben, um ihn auszufragen, was in meinem Labor eigentlich passiert? Ich würde übrigens gern wissen, wie Sie an seinen Namen gekommen sind. Wahrscheinlich über diese radikalen Tierschützer, die ihm und mir das Leben zur Hölle machen. Bestimmt hat Ihr Renommee ihn beeindruckt und Sie haben ihn zum Reden gebracht, welchen Wert er unserer Arbeit beimisst, wie er sein Tun rechtfertigt und wie sehr die Primaten leiden.«
Oliver sagte leichthin: »Ich habe notwendige Recherchen gemacht. Ich wollte über so ein Labor gewisse Fakten erfahren: die Anzahl der Mitarbeiter, die Bedingungen, unter denen die Tiere gehalten werden, wann und wie sie gefüttert werden, woher sie stammen. Ich habe keine Fragen über einzelne Personen gestellt. Ich recherchiere Fakten, keine Emotionen. Ich muss nicht herausfinden, wie Menschen handeln oder was sie fühlen. Ich weiß, was sie fühlen.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, wie arrogant das klingt? O ja, wir haben Gefühle. Ich bin voller Mitgefühl für die Menschen, die an Parkinson oder Mukoviszidose leiden. Für sie tun meine Mitarbeiter und ich nämlich alles, um ein Heilmittel zu finden, und das unter großen persönlichen Opfern.«
»Ich würde eher sagen, dass die Tiere dabei die Opfer sind. Die armen Viecher erleiden Schmerzen, Sie ernten den Ruhm. Stimmt es etwa nicht, dass Sie ungerührt hundert Affen sterben lassen würden, noch dazu unter Qualen, wenn sie dadurch ihre Ergebnisse als Erster veröffentlichen könnten? Auf dem Schlachtfeld der wissenschaftlichen Ehre geht es so skrupellos zu wie an der Börse. Warum so tun, als wäre es anders?«
Yelland erwiderte: »Ihren Alltag lassen Sie sich offensichtlich nicht durch Ihre Sorge um die Tiere beeinträchtigen. Das Perlhuhn scheint Ihnen zu munden, Sie tragen Leder, und bestimmt trinken Sie Ihren Kaffee mit Milch. Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, wie manche Tiere - und das sind meines Wissens sehr viele - wegen ihres Fleischs abgeschlachtet werden. In meinem Labor würden sie einen wesentlich gnädigeren und noch dazu sinnvolleren Tod sterben, das kann ich Ihnen versichern.«

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liver zerlegte behutsam sein Perlhuhn. »Ich bin Fleischesser. Alle Lebewesen ernähren sich von anderen, das scheint ein Naturgesetz zu sein. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Nahrung humaner töteten, aber ich esse sie ohne Gewissensbisse. Das ist in meinen Augen auch etwas völlig anderes, als einen Menschenaffen für experimentelle Zwecke zu benutzen, von denen dieser niemals profitieren kann, da wir nun mal unterstellen, dass Homo sapiens von Natur aus jeder anderen Spezies überlegen ist, weshalb wir uns für berechtigt halten, uns diese ganz nach Belieben zunutze zu machen. Soviel ich weiß, überwacht das Innenministerium die Tolerierbarkeit der Schmerzen und verlangt normalerweise exakte Informationen über die verwendeten Analgetika, und ich vermute, das gibt dem Ganzen einen etwas humaneren Anstrich. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Mitglied oder auch nur Unterstützer der Organisationen, die Ihnen zu schaffen machen. Das steht mir nicht zu, da ich selbst von Entdeckungen profitiere, die in der Vergangenheit durch Tierversuche gemacht wurden, und ganz sicher auch in der Zukunft mögliche Erfolge nutzen werde. Nebenbei bemerkt, ich hätte nicht gedacht, dass sie ein religiöser Mensch sind.«
Yelland sagte schroff: »Das bin ich auch nicht. Ich habe keinerlei metaphysische Überzeugungen.«

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ie erstaunen mich. Ich dachte, Sie vertreten in dieser Sache eine alttestamentarische Auffassung. Sie kennen doch gewiss das erste Kapitel der Genesis: ÝUnd Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.Ü Ein göttliches Gebot, das zu befolgen uns nie schwer gefallen ist. Der Mensch, der große Räuber, der oberste Ausbeuter, der Richter über Leben und Tod von Gottes Gnaden.«
Maycrofts Perlhuhn schmeckte fade, eine pappige Masse in seinem Mund. Der Abend war ein Desaster. Und der ganze Disput wirkte irgendwie seltsam. Es war eigentlich keine Diskussion, sondern eher ein kontroverser Wechselgesang, bei dem nur einer der Teilnehmer, nämlich Yelland, echte Leidenschaft empfand. Was auch immer Oliver bedrückte, es hatte nichts mit Yelland zu tun. Maycroft sah Jos hellwache Augen, die von einem der beiden zum anderen huschten, als verfolge sie einen spannenden Ballwechsel in einem Tennismatch. Ihre rechte Hand zerbröselte ein Stück Weißbrot, und sie schob sich blind die Stückchen ungebuttert in den Mund. Er hatte das Gefühl, er solle sich einschalten, und da Staveley schwieg und die Stille immer peinlicher wurde, sagte er: »Vielleicht würden wir die Dinge anders sehen, wenn wir oder eins unserer Kinder an einer Krankheit des Nervensystems leiden würden. Vielleicht sind jene die Einzigen, die das Recht haben, über die moralische Vertretbarkeit solcher Experimente zu sprechen.«
Oliver sagte: »Es liegt nicht in meiner Absicht, in deren Namen zu sprechen. Ich habe mit dieser Diskussion nicht angefangen. In dieser Frage stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Meine Romanfiguren haben ihre festen Überzeugungen, aber das ist etwas ganz anderes.«

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elland sagte: »Das ist eine ganz schwache Ausrede! Sie verleihen ihnen eine Stimme, mitunter sogar eine gefährliche. Und es ist unaufrichtig, so zu tun, als wäre es Ihnen nur um ganz normale Hintergrundinformationen gegangen. Der Junge hat Ihnen Dinge erzählt, die er niemals hätte preisgeben dürfen.«
»Ich bin nicht dafür verantwortlich, was andere mir erzählen.«
»Was auch immer er Ihnen erzählt hat, heute tut es ihm Leid. Er hat gekündigt. Er war einer meiner fähigsten jungen Mitarbeiter. Jetzt fehlt er in einem wichtigen Forschungsbereich und geht der Wissenschaft vielleicht sogar ganz verloren.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.08.2006