04.08.2006
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Wie gewohnt hatte Mrs. Burbridge mit ihrer eleganten Schrift eine Speisekarte geschrieben. Zum Auftakt würde es Melonenbällchen in Orangensauce geben, gefolgt von Perlhuhn mit Pfannengemüse und schließlich ein Zitronensoufflé als Dessert. Der erste Gang war bereits aufgetischt worden. Oliver griff nach Löffel und Gabel und betrachtete seinen Teller, als ärgere es ihn, dass jemand seine Zeit damit verschwendet hatte, Melonenbällchen auszustechen. Die Unterhaltung verlief stockend, bis Mrs. Plunkett und Millie einen Servierwagen mit Perlhuhn und Gemüse hereinrollten. Der Hauptgang wurde serviert.
Mark Yelland nahm sein Besteck, machte aber keine Anstalten zu essen. Stattdessen stützte er die Ellbogen auf den Tisch, hob das Messer wie eine Waffe, warf einen Blick zu Nathan Oliver hinüber und sagte bedrohlich leise: »Ich vermute, ich bin mit dem Laborleiter in dem Roman gemeint, den Sie nächstes Jahr rausbringen wollen, eine Figur, die Sie ganz bewusst so arrogant und gefühllos gestaltet haben, wie es nur ging, wollten Sie den Mann nicht völlig unglaubwürdig machen.«
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Yelland legte Messer und Gabel hin. Seine Augen ruhten weiterhin auf Oliver. »Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie sich mit einem jungen Mitarbeiter aus meinem Team getroffen haben, um ihn auszufragen, was in meinem Labor eigentlich passiert? Ich würde übrigens gern wissen, wie Sie an seinen Namen gekommen sind. Wahrscheinlich über diese radikalen Tierschützer, die ihm und mir das Leben zur Hölle machen. Bestimmt hat Ihr Renommee ihn beeindruckt und Sie haben ihn zum Reden gebracht, welchen Wert er unserer Arbeit beimisst, wie er sein Tun rechtfertigt und wie sehr die Primaten leiden.«
Oliver sagte leichthin: »Ich habe notwendige Recherchen gemacht. Ich wollte über so ein Labor gewisse Fakten erfahren: die Anzahl der Mitarbeiter, die Bedingungen, unter denen die Tiere gehalten werden, wann und wie sie gefüttert werden, woher sie stammen. Ich habe keine Fragen über einzelne Personen gestellt. Ich recherchiere Fakten, keine Emotionen. Ich muss nicht herausfinden, wie Menschen handeln oder was sie fühlen. Ich weiß, was sie fühlen.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, wie arrogant das klingt? O ja, wir haben Gefühle. Ich bin voller Mitgefühl für die Menschen, die an Parkinson oder Mukoviszidose leiden. Für sie tun meine Mitarbeiter und ich nämlich alles, um ein Heilmittel zu finden, und das unter großen persönlichen Opfern.«
»Ich würde eher sagen, dass die Tiere dabei die Opfer sind. Die armen Viecher erleiden Schmerzen, Sie ernten den Ruhm. Stimmt es etwa nicht, dass Sie ungerührt hundert Affen sterben lassen würden, noch dazu unter Qualen, wenn sie dadurch ihre Ergebnisse als Erster veröffentlichen könnten? Auf dem Schlachtfeld der wissenschaftlichen Ehre geht es so skrupellos zu wie an der Börse. Warum so tun, als wäre es anders?«
Yelland erwiderte: »Ihren Alltag lassen Sie sich offensichtlich nicht durch Ihre Sorge um die Tiere beeinträchtigen. Das Perlhuhn scheint Ihnen zu munden, Sie tragen Leder, und bestimmt trinken Sie Ihren Kaffee mit Milch. Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, wie manche Tiere - und das sind meines Wissens sehr viele - wegen ihres Fleischs abgeschlachtet werden. In meinem Labor würden sie einen wesentlich gnädigeren und noch dazu sinnvolleren Tod sterben, das kann ich Ihnen versichern.«
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Yelland sagte schroff: »Das bin ich auch nicht. Ich habe keinerlei metaphysische Überzeugungen.«
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Maycrofts Perlhuhn schmeckte fade, eine pappige Masse in seinem Mund. Der Abend war ein Desaster. Und der ganze Disput wirkte irgendwie seltsam. Es war eigentlich keine Diskussion, sondern eher ein kontroverser Wechselgesang, bei dem nur einer der Teilnehmer, nämlich Yelland, echte Leidenschaft empfand. Was auch immer Oliver bedrückte, es hatte nichts mit Yelland zu tun. Maycroft sah Jos hellwache Augen, die von einem der beiden zum anderen huschten, als verfolge sie einen spannenden Ballwechsel in einem Tennismatch. Ihre rechte Hand zerbröselte ein Stück Weißbrot, und sie schob sich blind die Stückchen ungebuttert in den Mund. Er hatte das Gefühl, er solle sich einschalten, und da Staveley schwieg und die Stille immer peinlicher wurde, sagte er: »Vielleicht würden wir die Dinge anders sehen, wenn wir oder eins unserer Kinder an einer Krankheit des Nervensystems leiden würden. Vielleicht sind jene die Einzigen, die das Recht haben, über die moralische Vertretbarkeit solcher Experimente zu sprechen.«
Oliver sagte: »Es liegt nicht in meiner Absicht, in deren Namen zu sprechen. Ich habe mit dieser Diskussion nicht angefangen. In dieser Frage stehe ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Meine Romanfiguren haben ihre festen Überzeugungen, aber das ist etwas ganz anderes.«
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»Ich bin nicht dafür verantwortlich, was andere mir erzählen.«
»Was auch immer er Ihnen erzählt hat, heute tut es ihm Leid. Er hat gekündigt. Er war einer meiner fähigsten jungen Mitarbeiter. Jetzt fehlt er in einem wichtigen Forschungsbereich und geht der Wissenschaft vielleicht sogar ganz verloren.«
Artikel vom 04.08.2006