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Ich versichere Ihnen, dass es Absicht war. Padgett hätte nie erlaubt werden dürfen, herzukommen und seine Mutter mitzubringen. Sie war offensichtlich todkrank, und er hat Sie über ihren Zustand und ihre Leistungsfähigkeit im Unklaren gelassen. Aber ich bin nicht hier, um über Padgett zu reden oder Ihnen zu erklären, wie Sie Ihre Arbeit machen sollen. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Wenn sich die Dinge hier nicht ändern, ändere ich mein Testament, sobald ich wieder auf dem Festland bin.«
Maycroft sagte vorsichtig: »Das ist selbstverständlich Ihre Entscheidung. Ich kann Ihnen nur versichern, dass es mir Leid tut, sollten Sie das Gefühl haben, wir hätten Sie in irgendeiner Form enttäuscht. Sie haben das Recht, jederzeit herzukommen, wann immer Sie wollen, das steht eindeutig so im Stiftungsvertrag. Jeder, der auf der Insel geboren wurde, hat dieses Recht, und soweit wir wissen, sind Sie die einzige lebende Person, auf die das zutrifft. Emily Holcombe hat ein moralisches Recht auf Atlantic Cottage. Wenn sie sich bereit erklärt auszuziehen, können Sie das Cottage haben.«»Dann würde ich vorschlagen, Sie machen ihr den Preis für ihre Halsstarrigkeit deutlich.«
Maycroft sagte: »Ist das alles?«

N
ein, das ist nicht alles. Wie gesagt, ich habe zwei Anliegen. Das zweite ist, dass ich beabsichtige, mich dauerhaft auf Combe niederzulassen, sobald die erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden sind. Selbstverständlich benötige ich die entsprechende Unterbringung. Ich schlage vor, Peregrine Cottage entsprechend auszubauen, um es zumindest vorläufig zu einem erträglichen Ort zu machen, während ich weiter auf eine Entscheidung in Bezug auf Atlantic Cottage warte.«

Maycroft hoffte verzweifelt, dass sein Gesicht nicht das Entsetzen verriet, das er empfand. »Ich werde den Stiftungsrat davon in Kenntnis setzen, selbstverständlich. Wir werden uns die Satzung genau ansehen müssen. Ich bin nicht sicher, ob dauerhafte Bewohner erlaubt sind, außer jenen, die hier arbeiten. Emily Holcombe ist natürlich im Vertrag berücksichtigt worden.«
Oliver sagte: »Im Vertrag steht schwarz auf weiß, dass niemand, der auf der Insel geboren wurde, abgewiesen werden darf. Ich bin auf Combe geboren. Es gibt keinerlei Einschränkung hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts. Ich glaube, Sie werden feststellen, dass mein Vorhaben rechtlich möglich ist, ohne dass der Stiftungsvertrag geändert werden muss.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging.

M
aycroft starrte auf die Tür, die Oliver fest hinter sich zugezogen, fast zugeknallt hatte, sank in seinen Sessel und spürte eine Welle der Depression, die sich wie eine spürbare Last auf seine Schultern legte. Das war eine Katastrophe. Sollte dieser Job, den er kurz entschlossen als eine mögliche Option angenommen hatte - als friedliches Intermezzo, um seinen Verlust zu verarbeiten, sein bisheriges Leben kritisch Revue passieren zu lassen und Entscheidungen für die Zukunft zu treffen -, damit enden, dass er scheiterte und sich demütigen lassen musste? Die Mitglieder des Stiftungsrates wussten, dass Oliver schwierig war, sein Vorgänger war allerdings mit ihm fertig geworden.
Er hatte Emily Holcombe nicht klopfen hören, doch unversehens kam sie durch den Raum auf ihn zu.
Sie sprudelte los: »Ich habe mich in der Küche mit Mrs. Burbridge unterhalten. Millie hat uns ganz aufgeregt irgendwas von einem Problem unten am Kai erzählt. Anscheinend hat Dan Olivers Blutprobe über Bord fallen lassen.«
Maycroft sagte: »Oliver war hier, um sich zu beschweren. Er hat das sehr übel aufgefasst. Ich wollte ihm erklären, dass es ein Missgeschick war.« Er wusste, dass seine Bestürzung und - ja - seine Unzulänglichkeit ihm ins Gesicht geschrieben standen.

E
in seltsames Malheur. Aber er kann sich doch wohl eine weitere Probe abnehmen lassen. Selbst in seinen missgünstigen Adern wird doch noch ein Rest Blut fließen. Nehmen Sie die Sache nicht vielleicht zu ernst, Rupert?«
»Nein, das ist es nicht. Wir haben ein Problem. Oliver droht, die Stiftung aus seinem Testament zu streichen.«
»Das wäre schade, aber wohl kaum eine Katastrophe. Wir nagen ja nicht am Hungertuch.«
»Er hat noch eine Drohung ausgesprochen. Er will sich dauerhaft hier niederlassen.«
»Das kann er nicht. Das ist unmöglich.«
Maycroft sagte bedrückt: »Vielleicht doch nicht. Ich werde mir den Stiftungsvertrag genau ansehen müssen. Unter Umständen haben wir keine legale Handhabe, um ihn daran zu hindern.«

E
mily Holcombe ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und sah ihn an. »Legal oder illegal. Er muss daran gehindert werden. Und wenn sonst keiner den Mumm dazu hat, tu ich es.«

4
Das Versteck, das Miranda Oliver und Dennis Tremlett für sich gefunden hatten, war so vorteilhaft und unerwartet wie ein kleines Wunder: eine grasbewachsene Mulde auf der unteren Klippe, rund hundert Meter südlich einer alten Steinkapelle und weniger als drei Meter von einem zwölf Meter tiefen Abgrund über einer kleinen Meeresbucht mit schäumender Brandung gelegen. Die flache Stelle wurde auf beiden Seiten von hohen Granitfelsen geschützt und war nur kletternd und rutschend über einen steilen, von Felsbrocken übersäten und mit Buschwerk bestandenen Hang zu erreichen. Die Zweige der Büsche boten genügend Halt, und der Abstieg war nicht sonderlich schwierig, selbst für Dennis mit seinem lahmen Bein. Es war trotzdem unwahrscheinlich, dass jemand sich da hinabtrauen würde, der nicht gerade nach einem verborgenen Versteck suchte, und nur vom äußersten Rand der bröckeligen, überhängenden Klippe hätte man sie sehen können. Miranda hatte die Möglichkeit unbekümmert abgetan - Verlangen, Begeisterung und hoffnungsfroher Optimismus waren zu berauschend gewesen, um sich von gewiss unwahrscheinlichen Risiken und falschen Ängsten bestimmen zu lassen. Dennis hatte versucht, ihre Zuversicht zu teilen und den nötigen Enthusiasmus in seine Stimme gelegt, den sie, wie er wusste, von ihm erwartete und brauchte. Für sie verstärkte die Nähe des gefährlichen Klippenrandes die Unverletzlichkeit ihrer Zuflucht und verlieh ihrem Sex einen zusätzlichen erotischen Reiz.

J
etzt lagen sie körperlich nah beieinander doch gedanklich weit voneinander entfernt und blickten hinauf in den blauen friedlichen Himmel mit seinen weißen Wolkenbergen. Die ungewöhnliche Kraft der Herbstsonne hatte die Felsen um sie herum aufgeheizt, und sie waren beide bis zur Taille nackt. Dennis hatte sich die noch immer offene Jeans hochgezogen, und Mirandas Kordrock war hochgeschoben bis zu den Oberschenkeln. Ihre anderen Sachen lagen in einem wirren Haufen neben ihr, das Fernglas obendrauf. Nun, nachdem das dringendste körperliche Begehren gestillt war, zeigten sich seine anderen Sinne unnatürlich geschärft, und in seinen Ohren pochte - wie immer auf der Insel - eine wahre Klangkakophonie: das Tosen des Meeres, das Dröhnen und Rauschen der Wellen und zwischendurch der wilde Schrei einer Möwe. Er konnte das niedergedrückte Gras und die intensivere Erde riechen, dazu einen schwachen unbekannten Duft, halb süß, halb sauer, aus dem Büschel knollenblättriger Pflanzen, die sich leuchtend grün gegen den silbrigen Granitstein abhoben, den Geruch der See und den kräftigen Schweißgeruch von warmer Haut und körperlicher Begierde.

E
r hörte, dass Miranda ein leiser glücklicher Seufzer entfuhr. Sogleich fühlte er Zärtlichkeit und Dankbarkeit in sich aufwallen, und er wandte ihr das Gesicht zu und betrachtete ihr friedliches Profil. Wenn sie sich geliebt hatten, sah sie immer so aus, hatte dieses zufriedene, stille Lächeln, das Gesicht glatt und viel jünger, als wäre eine Hand über ihre Haut geglitten und hätte die schwachen Spuren der beginnenden mittleren Jahre weggezaubert. Sie war noch Jungfrau gewesen, als sie das erste Mal miteinander schliefen, aber ihr verzweifelter Liebesakt hatte nichts Zögerliches oder Passives gehabt. Sie hatte sich ihm geöffnet, als könnte dieser Moment all die toten Jahre wieder gutmachen. Und die sexuelle Erfüllung hatte in ihr mehr freigesetzt als nur das halb eingestandene Bedürfnis des Körpers nach warmer, empfindsamer Haut, nach Liebe. In den gestohlenen Stunden, in denen sie nicht nur das übermächtige Verlangen nach körperlicher Liebe befriedigten, hatten sie Gespräche geführt, manchmal über Belanglosigkeiten, häufiger jedoch über ihren aufgestauten, lang unterdrückten Groll und darüber, wie unglücklich sie waren.

E
r wusste recht gut, wie ihr Leben mit ihrem Vater gewesen war; er hatte es zwölf Jahre lang beobachten können. Doch falls er Mitleid empfunden hatte, so war es nur eine flüchtige Empfindung gewesen, ohne eine Spur Zuneigung. Ihre allzu offensichtliche Tüchtigkeit, ihre Zurückhaltung, die Male, wenn sie ihn mehr wie einen Bediensteten denn wie den Vertrauten und Assistenten ihres Vaters behandelte, hatten auf ihn einschüchternd unattraktiv gewirkt.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.07.2006