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Er fühlte sich grenzenlos klein, als ob sein Geist und sein Körper geschrumpft wären. Allein stand er auf einer kreisenden Erdkugel und blickte hinauf in die Unendlichkeit. Die Sterne waren da, bewegten sich gemäß den physikalischen Gesetzen, aber ihr Leuchten existierte nur in seinem Kopf - ein Kopf, der ihn im Stich ließ, und Augen, die nicht mehr klar sehen konnten. Er war erst achtundsechzig, doch langsam, aber sicher schwanden seine Kräfte. Er fühlte sich ungemein einsam, als gäbe es außer ihm kein anderes Lebewesen. Nirgendwo auf der Erde war Hilfe zu finden, und auch nicht auf diesen toten kreisenden Welten mit ihrem trügerischen Glanz. Niemand könnte ihn hören, wenn er diesem fast unwiderstehlichen Impuls nachgeben und laut in die fühllose Nacht schreien würde, Nimm mir nicht meine Sprache weg! Gib mir meine Sprache wieder!

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In seinem Schlafzimmer im obersten Stockwerk des Turms fand Maycroft keine rechte Ruhe. Immer wieder wurde er wach, schaltete das Licht ein und schaute auf den Wecker, in der Hoffnung, dass es bald Tag werde. Zehn nach zwei, zwanzig vor vier, zwanzig nach vier. Am liebsten wäre er aufgestanden, hätte sich einen Tee gekocht und den BBC World Service im Radio gehört, aber er widerstand der Versuchung. Stattdessen versuchte er noch ein oder zwei Stunden Schlaf zu finden, doch es wollte ihm nicht gelingen. Um elf Uhr hatte der Wind aufgefrischt. Zwar hatte er sich nicht zu einem lang andauernden Sturm ausgewachsen, doch einzelne kräftige, wilde Böen hatten im Kamin geheult, und die Ruhephasen zwischen den Ausbrüchen bedeuteten keine Erholung, sondern es war eher Unheil verkündend und unnatürlich still. Während seiner achtzehn Monate auf der Insel hatte er schon bei stärkeren Stürmen ungestört durchgeschlafen. Normalerweise beruhigte das beständige Tosen des Meeres seine Nerven. Nun brach es förmlich in sein Zimmer ein wie ein stampfender, aufdringlicher Bass, der das Heulen des Windes begleitete. Er versuchte, sich zur Ordnung zu rufen, doch bei jedem Aufwachen kehrte die gleiche Unruhe, das gleiche ungute Gefühl mit neuer Kraft zurück.

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ar Olivers Drohung ernst zu nehmen, dass er dauerhaft auf der Insel wohnen wollte? Wenn ja, wie konnte er im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten daran gehindert werden? Würde der Stiftungsrat ihm die Verantwortung für das Debakel geben? Hätte er besser mit dem Mann auskommen können? Sein Vorgänger war offenbar mit Oliver und dessen Stimmungen fertig geworden, warum also fiel es ihm so schwer? Und warum hatte Oliver für den Morgen die Barkasse bestellt? Er hatte wohldoch vor abzureisen. Der Gedanke munterte Maycroft kurz auf. Allerdings wäre es ein schlechtes Vorzeichen für seine Zukunft, verließe Oliver erbost und verbittert die Insel. Es würde als sein Fehler betrachtet werden. Nach Ablauf der ersten beiden Monate war seine Festanstellung bestätigt worden, aber er hatte weiterhin das Gefühl, in der Probezeit zu sein. Er könnte seinen Posten freiwillig räumen, oder man könnte ihn mit dreimonatiger Kündigungsfrist entlassen. In einem Job zu scheitern, der von allen als einträglicher Ruheposten betrachtet wurde und den er selbst als friedvolle Erholungsphase gesehen hatte, Zeit zum Nachdenken gewissermaßen, wäre sowohl für ihn persönlich als auch insgesamt beschämend. Er gab die Hoffnung auf Schlaf auf und griff nach seinem Buch.
Mit einem Ruck erwachte er. Die gebundene Ausgabe von Trollopes Barset-Chronik schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Er tastete nach seiner Uhr und sah mit Bestürzung, dass es acht Uhr zweiunddreißig war. Er hatte verschlafen.

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is er nach seinem Frühstück klingelte, war es neun Uhr geworden, und eine weitere halbe Stunde verging, ehe er schließlich mit dem Fahrstuhl nach unten in sein Büro fuhr. Im Licht des Tages hatte er die nagende Unruhe mithilfe des Verstandes abschalten können, dennoch blieb die Beklommenheit wie eine böse Vorahnung zurück, die er auch während des tröstlich vertrauten Frühstückrituals nicht hatte abschütteln können. Mrs. Plunkett hatte ihm, trotz seiner Verspätung, das Frühstück innerhalb von Minuten nach dem Klingeln serviert: das Schälchen mit Dörrpflaumen, der knusprig, aber nicht hart gebratene Schinken - genau wie er ihn mochte -, das Spiegelei auf der in Bratfett gerösteten Scheibe Brot, der Becher Kaffee und der warme Toast, die selbst gemachte Marmelade - alles wurde genau in dem Augenblick hereingetragen, als er dafür bereit war. Er aß, aber ohne Genuss. Die Mahlzeit erschien ihm in ihrer Vollkommenheit wie eine gezielte Erinnerung an die Behaglichkeit und das harmonische Alltagsleben auf Combe Island. Er war nicht bereit, noch einen Neuanfang zu wagen, und ihm graute vor den Unannehmlichkeiten und Strapazen, die ihn erwarteten, sollte er sich ein eigenes Haus suchen und einrichten müssen. Doch nichts anderes würde ihm letztlich übrig bleiben, falls Nathan Oliver sich wirklich auf Combe niederließ.

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ls er das Büro betrat, saß Adrian Boyde am Schreibtisch und tippte Zahlen in die Rechenmaschine ein. Maycroft war erstaunt, ihn samstags arbeiten zu sehen, bis ihm Boydes Bemerkung einfiel, dass er ein paar Stunden ins Büro kommen wollte, um die Umsatzsteuervoranmeldung und die Vierteljahresbilanzen abzuschließen. Trotzdem, es war ein ungewöhnlicher Auftakt seines Arbeitstages. Die beiden Männer begrüßten einander und verfielen dann in tiefes Schweigen. Maycroft schaute zu dem anderen Schreibtisch hinüber und hatte plötzlich das Gefühl, einen Fremden vor sich zu haben. Bildete er sich das bloß ein, oder sah Adrian leicht verändert aus, das bleiche Gesicht angespannter, dunkle Schatten um die ängstlichen Augen, der Körper weniger locker? Als er einen erneuten Blick hinüberwarf, bemerkte er, dass die Hand seines Mitarbeiters ruhig auf den Papieren lag. Hatte auch er eine schlechte Nacht gehabt? War er von diesen ominösen dunklen Vorahnungen angesteckt worden? Erneut wurde ihm bewusst, und diesmal noch weitaus deutlicher, wie sehr er sich auf Boyde verließ: die ruhige Effizienz, die wortlose Kollegialität, die ihre Zusammenarbeit prägte, der gesunde Menschenverstand, der ihm wie die kostbarste und nützlichste aller Tugenden erschien, und eine Bescheidenheit, die nichts mit mangelnder Selbstachtung oder mit Unterwürfigkeit zu tun hatte. Sie hatten nie über Persönliches in ihrer beider Leben gesprochen. Warum also hatte er das Gefühl, dass seine Unsicherheiten, die Trauer um seine Frau, die er manchmal tagelang vergessen konnte, bis sie ihn wieder mit einer fast überwältigenden Sehnsucht überfiel, von Boyde verstanden und akzeptiert würden? Er teilte Adrians Frömmigkeit nicht. Lag es einfach daran, dass er das Gefühl hatte, die Anwesenheit eines guten Menschen zu spüren?
Das Einzige, was er über ihn wusste, hatte er in einem unwiederbringbaren Augenblick impulsiver Vertraulichkeit von Jo Staveley erfahren. »Der arme Kerl ist stockbetrunken vornüber aufs Gesicht gefallen, als er gerade die Kommunion verteilte. Eine fromme alte Dame, den Kelch an ihren Lippen, hat es förmlich von den Knien gerissen. Verschütteter Wein. Geschrei, allgemeine Bestürzung. Die naiveren Gottesdienstbesucher dachten, er wäre tot. Ich glaube, die Gemeinde und der Bischof hatten seine kleine Schwäche bis dahin toleriert, aber das war ein Glas zu viel.«

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nd doch war es am Ende Jo gewesen, die Adrian Boyde gerettet hatte. Boyde war bereits über ein Jahr auf der Insel gewesen und stets nüchtern geblieben bis zu der schrecklichen Nacht, in der er rückfällig wurde. Drei Tage später hatte er Combe verlassen. Jo war der Langeweile des Insellebens gerade mal wieder in ihre Londoner Wohnung entflohen. Sie nahm Boyde bei sich auf, fuhr mit ihm in ein einsames Cottage auf dem Lande, überwachte seinen Entzug und brachte ihn zurück nach Combe, kurz bevor Maycroft selbst dort eintraf. Es wurden nie viele Worte darüber verloren, aber wahrscheinlich verdankte Boyde sein Leben Jo Staveley.

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as Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, und Rupert Maycroft fuhr hoch. Es war genau fünf vor halb zehn. Über das Nachdenken hatte er die Zeit vergessen.
Jo klang gereizt. »Haben Sie Oliver gesehen? Er ist nicht zufällig bei Ihnen? Um neun Uhr wollte er in die Praxis kommen und sich erneut Blut abnehmen lassen. Ich hab mir schon gedacht, dass er es sich vielleicht anders überlegt, aber er hätte wenigstens anrufen und Bescheid sagen können.«
»Vielleicht hat er ja verschlafen oder es vergessen.«
»Ich hab im Peregrine Cottage angerufen. Miranda sagt, sie hat ihn gegen zwanzig nach sieben weggehen hören. Sie war in ihrem Schlafzimmer, und sie beide hätten kein Wort miteinander geredet. Sie hat keine Ahnung, wo er hinwollte. Gestern Abend hat er ihr nichts davon gesagt, dass er zum Blutabnehmen wollte.«
»Ist er bei Tremlett?«
»Tremlett ist auch im Peregrine Cottage. Er ist schon um kurz nach acht da gewesen, weil er Arbeit aufholen wollte. Er sagt, er hat Oliver seit gestern nicht mehr gesehen. Kann ja sein, dass Oliver früher aufgebrochen ist, weil er noch einen Spaziergang machen wollte, ehe er in die Praxis kommt, aber wieso ist er dann noch nicht hier? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.08.2006