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Gut, solange du dir selbst gegenüber die Wahrheit eingestehst. Und dann noch der Ärger wegen der Hautfarbe, die Anschuldigungen, dass es bei einem weißen Jungen anders gelaufen wäre. Inzwischen würde kein Hahn mehr danach krähen, wenn diese Rassenfanatiker das nicht ausgeschlachtet hätten.«
»Und ich werde mich auch nicht mit unfairen Rassismusvorwürfen rausreden. Winston ist an einer Bauchfellentzündung gestorben. Das ist heutzutage unverzeihlich. Ich hätte hinfahren sollen, als die Mutter anrief. Das ist eine der ersten Grundregeln in der Medizin; bei einem Kind kein Risiko einzugehen.«
»Dann hast du also vor, ewig hier zu bleiben, an Nathan Olivers Hypochondrie herumzudoktern und darauf zu warten, dass einer von Jagos Kletterschülern von der Klippe stürzt? Die Leute, die hier arbeiten, haben ihre Hausärzte in Pentworthy, Emily ist nie krank und offensichtlich entschlossen, hundert Jahre alt zu werden, und die Gäste kommen gar nicht erst her, wenn sie sich nicht gesund fühlen. Was ist das für ein Job für jemanden mit deinen Fähigkeiten?«
»Der Einzige, dem ich mich derzeit gewachsen fühle. Was ist mit dir, Jo?«

E
r fragte nicht danach, welchen Gebrauch sie von ihren Fähigkeiten als Krankenschwester machte, wenn sie allein in die leere Londoner Wohnung zurückkehrte. Und wie leer war diese wirklich? Was war mit Tim und Maxie und Kurt, Namen, die sie gelegentlich erwähnte, ohne weitere Erklärung und offenbar ohne Schuldgefühl? Manchmal erzählte sie kurz von Partys, Spielen, Konzerten, Restaurants, aber es gab Fragen, die er nicht zu stellen wagte, weil er die Antworten fürchtete. Mit wem ging sie aus, wer bezahlte, wer brachte sie zurück zur Wohnung, wer verbrachte die Nacht in ihrem Bett? Er fand es seltsam, dass sie sein Bedürfnis, es zu wissen, seine Angst, es zu wissen, nicht intuitiv spürte.
Jetzt sagte sie leichthin: »Oh, wenn ich nicht hier bin, arbeite ich. Letztes Mal war ich im St. Judeƕs in der Notaufnahme. Alle sind überlastet, und ich tue, was ich kann, allerdings Teilzeit. Mein soziales Gewissen hat Grenzen. Wenn du das ungeschminkte Leben kennen lernen willst, dann schau mal samstagabends in die Notaufnahme: Betrunkene, Drogensüchtige, aufgeschlagene Köpfe und so viele Flüche und Anzüglichkeiten, dass es einem die Schamröte ins Gesicht treibt. Wir sind stark auf ausländische Mitarbeiter angewiesen. Ich finde das unentschuldbar. Da gondeln die aus der Verwaltung seelenruhig um den Globus und werben die besten Ärzte und Krankenschwestern aus Ländern ab, die sie verdammt noch mal nötiger brauchen als wir. Es ist eine Schande.«

E
r wollte sagen: Sie werden nicht alle angeworben. Sie würden sowieso kommen, weil sie hier Geld und ein besseres Leben finden, und wer will es ihnen verübeln? Er war einfach zu müde, um über Politik zu diskutieren. Jetzt fragte er ohne großes Interesse. »Was ist denn nun mit Olivers Blut? Du hast sicher gehört, dass im Hafen die Hölle los war, weil diesem Trottel von Dan die Blutprobe über Bord gefallen ist.«
»Hast du mir selbst erzählt, Darling. Oliver kommt morgen Früh um neun und lässt sich eine neue Probe abnehmen. Besonders glücklich ist er nicht darüber, und ich auch nicht. Er hasst Nadeln. Der kann seinem Schöpfer danken, dass ich Profi bin und meistens beim ersten Mal die Vene treffe. Ich glaube, du würdest das nicht schaffen.«
»Ganz sicher nicht.«
»Ich hab früher öfter zugesehen, wenn Ärzte Blut abgenommen haben. Kein schöner Anblick. Bestimmt kommt Oliver gar nicht erst.«
»Der kommt schon. Er denkt, er sei anämisch. Bestimmt will er, dass er getestet wird. Wieso meinst du, dass er nicht kommt?«

J
o schwang die Beine vom Bett, streifte sich mit dem Rücken zu ihm den Morgenmantel ab und griff nach ihrer Pyjamajacke. »Wenn er tatsächlich morgen abreisen will, wartet er vielleicht lieber noch und lässt die Untersuchung in London machen. Wäre ja ganz vernünftig. Ich weiß nicht, ist nur so ein Gefühl von mir. Ich würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn Oliver morgen um neun nicht auftaucht.


9
Oliver ließ sich für den Rückweg zum Peregrine Cottage Zeit. Der Zorn, der ihn seit der Auseinandersetzung mit Miranda erfüllte, war belebend vor Selbstgerechtigkeit, doch er wusste, wie schnell er aus diesen erfrischenden Höhen in einen Morast der Hoffnungslosigkeit und Depression stürzen konnte. Er wollte allein sein und diese erregende, aber gefährliche Mischung aus Wut und Selbstmitleid beim Gehen loswerden. Eine Stunde lang tigerte er am Klippenrand hin und her, während der aufkommende Wind ihn durchrüttelte, und versuchte, den Wirrwarr in seinem Kopf zu ordnen. Normalerweise wäre er um diese Zeit schon längst im Bett gewesen, aber er musste das Haus beobachten, bis das Licht in Mirandas Schlafzimmer endlich erlosch. An diese Debatte mit Mark Yelland dachte er kaum noch. Im Vergleich zu der Treulosigkeit, die seine Tochter und Tremlett bewiesen hatten, war dieses Streitgespräch lediglich eine rhetorische Übung gewesen. Yelland hatte gar nicht die Macht, ihm zu schaden.
Schließlich trat er leise durch die unverschlossene Tür des Cottage und zog sie hinter sich zu. Miranda würde sich nicht blicken lassen, selbst wenn sie noch nicht eingeschlafen war. War er abends allein unterwegs, was selten der Fall war, hatte sie immer, auch wenn sie schon im Bett war, auf das Klicken des Türschlosses gelauscht. Sie hatte gedämpftes Licht für ihn angelassen und war dann heruntergekommen, um ihm eine Tasse heiße Milch zu machen. An diesem Abend lag das Wohnzimmer im Dunkeln. Er stellte sich ein Leben ohne ihre aufmerksame Fürsorge vor, sagte sich aber, dass es nicht dazu kommen würde. Morgen würde sie Vernunft annehmen. Tremlett würde gehen müssen, und damit wäre die Sache erledigt. Wenn nötig, würde er eben ohne Tremlett zurechtkommen. Miranda würde einsehen, dass sie für Tremletts lüsterne und zweifellos unbeholfene Fummeleien in irgendeiner schäbigen, engen Wohnung in einem ungesunden und gefährlichen Stadtteil Londons nicht die Sicherheit aufgeben konnte, den Komfort, den Luxus ihrer Auslandsreisen, das Privileg, sein einziges Kind zu sein, die Aussicht auf ihr Erbe. Tremlett konnte von seinem Gehalt nicht viel gespart haben. Miranda hatte nichts außer dem, was er ihr gab. Keiner von beiden hätte Aussicht auf einen Job, der ihnen auch nur ein bescheidenes Auskommen in London finanzieren würde. Nein, Miranda würde bleiben.
Ausgezogen und bettfertig schloss er die Leinenvorhänge vor den Fenstern. Wie immer ließ er einen Spalt offen, so dass es nicht völlig dunkel im Zimmer wurde. Als sich die Bettdecke über ihn senkte, verharrte er still, genoss das Heulen des Windes, bis er spürte, dass er schneller von den Höhen seines bewussten Seins in die Tiefe glitt, als er befürchtet hatte.

E
in hoher dünner Schrei, von dem er wusste, dass er selbst ihn ausgestoßen hatte, rüttelte ihn wieder wach. Die Dunkelheit des Fensters wurde noch immer von dem Lichtstreifen geteilt. Er streckte eine unsichere Hand nach der Nachttischlampe aus und betätigte den Schalter. Das Zimmer erstrahlte in beruhigender Normalität. Er tastete nach seiner Armbanduhr und sah, dass es jetzt drei Uhr war. Der Sturm hatte sich ausgetobt und die Ruhe draußen kam ihm unnatürlich und irgendwie unheilvoll vor. Er war aus dem gleichen Albtraum erwacht, der sein Bett Jahr für Jahr zu einem Ort des Grauens machte und ihn manchmal gehäuft heimsuchte, meistens jedoch in so großen Abständen, dass er zwischendurch beinahe dessen Vehemenz vergaß. Der Albtraum war stets derselbe. Er saß hoch über der See auf einem ungesattelten großen Schimmel, dessen Rücken so breit war, dass seine Beine keinen Halt fanden, und er wurde heftig von einer Seite zur anderen geschleudert, während das Pferd sich aufbäumte und in ein Lichtermeer aus Sternen sprang. Es gab keine Zügel, und seine Hände griffen verzweifelt nach der Mähne, versuchten sich festzuklammern. Er konnte die Winkel der großen, blitzenden Augen des Tieres sehen, den Schaum, der aus seinem wiehernden Maul quoll. Er wusste, dass sein Sturz unausweichlich war und er mit hilflos rudernden Armen in einen namenlosen Schrecken fallen würde, der unter der schwarzen Oberfläche des wellenlosen Meeres wartete.

M
anchmal lag er beim Aufwachen auf dem Boden, doch in dieser Nacht war die Bettdecke halb um ihn gewickelt. Gelegentlich hörte Miranda den Schrei, mit dem er erwachte, und dann kam sie herein, die Stimme der Vernunft, beruhigend, fragte, ob alles in Ordnung sei, ob er etwas brauche, ob sie für sie beide eine schöne Tasse Tee kochen solle. Er antwortete stets: »Hab bloß schlecht geträumt, bloß schlecht geträumt. Geh wieder schlafen.« Aber er wusste, dass sie in dieser Nacht nicht kommen würde. Niemand würde kommen. Er lag da, starrte auf den Streifen Licht und versuchte, das Grauen abzuschütteln. Langsam schob er sich aus dem Bett und taumelte zum Fenster hinüber, um es ganz zu öffnen und die weite Sternenpracht und das schimmernde Meer hereinzulassen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.08.2006