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Canossa ist einen Gang wert

Besucher der Mittelalter-Ausstellung in Paderborn müssen gleich zu Beginn die Alpen überqueren

Von Dietmar Kemper
und Wolfram Brucks (Fotos)
Paderborn (WB). »Der Winter war grauenvoll«, stöhnte Lambert von Hersfeld. »Ungeheure Schnee- und Eismassen« machten dem Gefolge von König Heinrich IV. die Überquerung der Alpen zur Hölle, schreibt der Chronist.

Auch die Besucher der Mittelalter-Ausstellung »Canossa 1077: Erschütterung der Welt« in Paderborn müssen hohe Berge erklimmen, allerdings nur symbolisch, und das Heulen des eisigen Windes kommt vom Tonband. Nachdem sie in der Kaiserpfalz den Tunnel mit aufdrapierten Alpengipfeln durchschritten haben, stehen die Geschichtsinteressierten vor einer etwa 900 Jahre alten, aufgeschlagenen Seite mit dem Motiv, das auf Plakaten, Autobahnschildern und Fahnen Werbung für die Fahrt nach Paderborn macht. Es zeigt einen knieenden Heinrich IV. In Canossa musste der Monarch drei Tage lang Papst Gregor VII. anflehen, ihn vom Kirchenbann zu lösen. Das welthistorische Ereignis vom Januar 1077 wird in Paderborn wieder lebendig.
Ob die Ausstellung, die morgen abend von Bundespräsident Horst Köhler eröffnet wird, Geschichte schreiben wird wie ihre Vorgängerin über die Karolinger vor sieben Jahren, wird sich bis zum 5. November zeigen. Die Vorzeichen sind gut: 1400 Führungen sind bereits gebucht, deutlich mehr als 1999. Die Rekordmarke von damals 310 000 Besuchern soll nach dem Wunsch der Ausstellungsmacher, Stadt und Erzbistum Paderborn sowie Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), geknackt werden. LWL-Direktor Wolfgang Kirsch versprach gestern eine »Ausstellung von europäischem Rang« mit berühmten Exponaten von 200 Leihgebern. Nach dem G8-Treffen in Sankt Petersburg komme es in Paderborn zwischen Heinrich IV. und Papst Gregor VII. zum Gipfel des Mittelalters.
In einem facettenreichen, spannenden Panorama in drei Museen werde eine Epoche tiefgreifender Gegensätze und Umbrüche, aber auch Neuanfänge und Reformen erzählt, schwärmte Generalvikar Alfons Hardt. Und auch Paderborns Bürgermeister Heinz Paus rührte die Werbetrommel, obwohl kein Politiker gern mit Canossa in Verbindung gebracht werde . . .
Was ist so spannend am Hochmittelalter? Es tobte ein Machtkampf zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Die Kirche grenzte sich vom Einfluss der Laien ab, stellte die Unfehlbarkeit des Papstes heraus und sah sich dazu berechtigt, Herrscher abzusetzen. Das überlieferte Gewohnheitsrecht, wonach der König Äbte und Bischöfe einsetzt, sollte nicht mehr gelten, vielmehr verwies der Klerus auf die Unmittelbarkeit zu Christus. Der Streit um die rechte Weltordnung habe nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die Köpfe erschüttert, betonte Christoph Stiegemann, Direktor des Erzbischöflichen Diözesanmuseums.
Bis zu 60 Kilogramm schwere Bibeln zeugen von einer Epoche großer Frömmigkeit und der Angst vor Teufeln und Dämonen. Während die Kirche im 11. und 12. Jahrhundert ein eigenes Profil entwickelte, erstarkten die Fürsten als Gefolgsleute oder Gegner von König und Papst. Der Bedarf an Kämpfern war groß, und so bildete sich der Ritterstand, wie wir ihn heute aus Büchern kennen, in dieser Zeit heraus. Gleichzeitig kamen die Städte auf, und die Geldwirtschaft setzte sich durch. »Es ist spannender, in eine Zeit der Erschütterung hineinzuschauen als einfach ein Jubiläum abzufeiern«, sagte der Direktor des Museums in der Kaiserpfalz, Matthias Wemhoff.
Auch nach dem Ende der Ausstellung lebt Canossa weiter: als Burgruine in Norditalien und in Zeitungen und Fernsehen als Symbol für das Zukreuzekriechen eines Menschen oder einer Partei.

Artikel vom 20.07.2006