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Dann sollten Sie besser sein Engagement hinterfragen. Übrigens ist der Wissenschaftler in meinem Roman mitfühlender und komplexer angelegt, als Sie offenbar gemerkt haben. Vielleicht haben Sie die Fahnen nicht unvoreingenommen gelesen. Oder aber Sie haben Ihren eigenen Charakter - oder den Charakter, von dem Sie fürchten, andere könnten ihn an Ihnen wahrnehmen - auf mein Werk übertragen. Überhaupt würde mich interessieren, wie Sie an den Fahnenabzug gekommen sind. Mein Verlag achtet sehr genau darauf, wer eine Kopie in die Finger bekommt.«
»Offenbar nicht genug. In Verlagshäusern gibt es subversive Elemente, genau wie in Forschungslaboren.«
Jo fand, dass es wieder an der Zeit war zu intervenieren. »Ich glaube, keinem von uns gefällt es, dass Menschenaffen für Forschungszwecke benutzt werden. Schimpansen und andere Affenarten sind uns zu ähnlich, als dass uns dabei wohl sein könnte. Vielleicht sollten Sie für Ihre Experimente Ratten benutzen. Wer mag schon Ratten?«
Yelland richtete seinen Blick auf sie, als überlegte er, ob derartige Ignoranz überhaupt eine Antwort verdient hatte. Oliver starrte unverwandt seinen Teller an. Da sagte Yelland: »Wir machen über achtzig Prozent unserer Versuche mit Ratten, und dabei mögen manche Menschen sie tatsächlich. Die Forscher zum Beispiel.«
Jo ließ sich nicht beirren. »Trotzdem, unter den Protestierenden müssen doch auch welche sein, die aus echtem Mitgefühl heraus handeln. Ich meine nicht die Gewalttätigen, die Spaß am Randalieren haben. Aber es gibt bestimmt etliche unter ihnen, die diese Grausamkeiten ehrlich verabscheuen und ihnen ein Ende machen wollen.«
Yelland entgegnete trocken: »Es fällt mir schwer, das zu glauben, schließlich dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass sie mit ihrer Gewalt und den Einschüchterungen nur eines erreichen, nämlich dass die Arbeit aus Großbritannien verlagert wird. Die Forschung wird fortgesetzt, jedoch in Ländern, die nicht unsere Tierschutzbestimmungen haben. Unser Land müsste wirtschaftlich darunter leiden, die Tiere allerdings noch wesentlich mehr.«
Oliver hatte sein Perlhuhn verzehrt. Jetzt legte er sorgfältig Messer und Gabel parallel neben den Teller und stand auf. »Ich denke, der Abend war anregend genug. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich möchte mich verabschieden. Ich muss zu Fuß zurück zum Peregrine Cottage.«
Maycroft erhob sich halb von seinem Stuhl. »Soll ich den Wagen für Sie kommen lassen?« Er wusste, dass seine Stimme säuselnd klang, fast unterwürfig, und er verachtete sich selbst dafür.
»Nein, danke. Ich bin noch nicht altersschwach. Aber Sie denken ja wohl daran, dass ich morgen Nachmittag die Barkasse brauche.« Und ohne einen weiteren Blick in die Runde verließ er den Raum.
Yelland warf einen Blick in die Runde. »Ich bitte um Verzeihung. Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Dafür bin ich nicht nach Combe gekommen. Ich wusste bis zu meiner Ankunft gar nicht, dass Oliver auf der Insel ist.«
Mrs. Plunkett war mit einem Tablett Soufflés hereingekommen und fing an, die leeren Teller abzuräumen. Staveley ergriff das Wort: »Er ist in einer seltsamen Stimmung. Offensichtlich hat ihn irgendetwas sehr aufgebracht.«
Jo war die Einzige, die noch aß. Sie sagte unbekümmert: »Er befindet sich doch permanent in einem aufgebrachten Zustand.«
»Aber nicht so. Und wieso will er morgen die Barkasse haben? Will er uns verlassen?«
Maycroft sagte: »Ich hoffe aus ganzem Herzen, dass er abreist.« Er wandte sich an Mark Yelland. »Wird sein neuer Roman Ihnen Schwierigkeiten bereiten?«
»Da er von ihm ist, wird er nicht ohne Einfluss bleiben. Ein gefundenes Fressen für die radikalen Tierschützer. Meine Forschung ist ernsthaft in Gefahr, und meine Familie auch. Ich bin sicher, dass dieser so genannte fiktionale Laborleiter als ein Porträt von mir aufgefasst werden wird. Natürlich kann ich Oliver nicht verklagen, und das weiß er. Publicity ist das Letzte, was ich mir wünsche. Er hat Dinge erfahren, die er nicht wissen dürfte.«
Staveley sagte leise: »Aber sind das nicht Dinge, die wir alle wissen sollten?«
»Nicht, wenn sie dazu verwendet werden, lebensrettende Forschungsarbeiten zu gefährden. Nicht, wenn sie in die Hände ignoranter Dummköpfe gelangen. Ich hoffe, Oliver hat vor, die Insel morgen zu verlassen. Sie ist wirklich nicht groß genug für uns beide. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich verzichte auf den Kaffee.«
Er knüllte seine Serviette zusammen, warf sie auf den Teller und ging rasch aus dem Raum, nachdem er Jo noch einmal zugenickt hatte. Die Stille wurde nur von dem Geräusch der Fahrstuhltür durchbrochen.
Maycroft sagte: »Es tut mir Leid. Das war ein Fiasko. Jemand hätte dazwischengehen sollen.«
Jo aß ihr Soufflé mit offensichtlichem Genuss. »Hören Sie auf, sich ständig zu entschuldigen, Rupert. Sie sind nicht für alles verantwortlich, was auf dieser Insel falsch läuft. Mark Yelland hat sich nur zum Dinner angemeldet, weil er Nathan zur Rede stellen wollte, und Nathan hat sich drauf eingelassen. Nun esst endlich eure Soufflés, die fallen sonst zusammen.«
Maycroft und Staveley griffen nach den Löffeln. Plötzlich ertönten mehrere dumpfe Schläge, wie fernes Geschützfeuer, und die Scheite im Kamin loderten hell auf. Jo Staveley sagte: »Das wird eine windige Nacht.«

8
Wenn seine Frau in London war, fühlte sich Guy Staveley in stürmischen Nächten nicht wohl, das laute Ächzen, Klagen und Heulen erinnerte ihn in seiner Einsamkeit zu sehr an einen beängstigend menschlichen Klagegesang. Jetzt jedoch, da Jo zu Hause war, empfand er das wilde Tosen außerhalb der Steinmauern von Dolphin Cottage wie eine wohltuende Bestärkung der Geborgenheit und Sicherheit im Innern seiner vier Wände. Gegen Mitternacht war das Schlimmste vorbei, und die Insel lag ruhig unter einem aufklarenden Sternenhimmel. Er blickte hinüber zu dem zweiten Einzelbett, auf dem Jo im Schneidersitz saß, den pinkfarbenen Satinmorgenmantel fest unter den Brüsten geschlossen. Sie kleidete sich oft provokativ - manchmal schamlos -, anscheinend ohne sich der Wirkung bewusst zu sein, doch wenn sie miteinander geschlafen hatten, bedeckte sie ihre Nacktheit mit der sorgsamen Züchtigkeit einer viktorianischen Braut. Das war eine ihrer Eigenarten, die er auch nach zwanzig Jahren Ehe noch unerklärlich liebenswert fand. Er wünschte, sie lägen in einem Doppelbett und er könnte den Arm nach ihr ausstrecken und ihr irgendwie seine Dankbarkeit für ihre bedingungslose und großzügige Sexualität vermitteln. Sie war seit vier Wochen wieder auf Combe, und wie immer war sie auf die Insel zurückgekehrt, als wäre sie nie fort gewesen, als führten sie eine normale Ehe.

Er hatte sich bei ihrer ersten Begegnung in sie verliebt, und er war kein Mensch, dem die Liebe leicht fiel oder die Veränderung. Für ihn würde es nie eine andere Frau geben. Er wusste, dass es für sie nicht so war. Am Morgen ihrer Hochzeit hatte sie ihre Bedingungen gestellt, bevor sie aller Konvention zum Trotz gemeinsam von ihrer Wohnung aus zum Standesamt aufgebrochen waren.
»Ich liebe dich, Guy, und ich glaube, ich werde dich auch weiterhin lieben, aber ich bin nicht verliebt. Das habe ich bereits einmal erlebt, und es war quälend, demütigend und eine Warnung. Deshalb entscheide ich mich jetzt für ein ruhiges Leben mit einem Menschen, den ich achte und sehr mag und mit dem ich mein Leben verbringen möchte.«

D
amals hatte er diese Abmachung akzeptabel gefunden, und daran hatte sich nichts geändert.
Jetzt sagte sie mit vorsichtig beiläufiger Stimme: »Ich bin in die Praxis gegangen, als ich in London war, und hab Malcolm und June getroffen. Sie möchten, dass du zurückkommst. Sie haben noch keinen Ersatz für dich gesucht und wollen es auch nicht, noch nicht jedenfalls. Sie sind natürlich furchtbar überarbeitet.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Deine alten Patienten fragen nach dir.«
Er sagte nichts.
Sie sprach weiter: »Das mit dem Jungen ist schon so lange her. Außerdem ist seine Familie weggezogen. Zur allgemeinen Erleichterung, glaube ich.«

E
r wollte sagen: Er war nicht »dieser Junge«, er war Winston Collins. Er hatte ein verdammt schreckliches Leben, und das fröhlichste Grinsen, das ich je bei einem Jungen gesehen habe.
»Darling, du kannst nicht ewig mit Schuldgefühlen leben. So etwas passiert Ärzten andauernd, erst recht in jedem Krankenhaus. Das war stets so. Wir sind alle nur Menschen. Uns unterlaufen Irrtümer, Fehleinschätzungen, falsche Berechnungen. Zu neunundneunzig Prozent werden sie vertuscht. Bei der derzeitigen Arbeitsüberlastung ist das kein Wunder. Und die Mutter war eine überängstliche, aufdringliche Nervensäge. Das wissen wir alle. Wenn sie dich nicht immer und immer wieder völlig unnötigerweise gerufen hätte, wäre ihr Sohn wahrscheinlich noch am Leben. Das hast du bei der Untersuchung nicht einmal erwähnt.«
Er entgegnete: »Ich wollte einer trauernden Mutter nicht die Verantwortung in die Schuhe schieben.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.08.2006