29.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Afrikas multikultureller
Brückenkopf nach Europa
In der marokkanischen Hafenstadt Tanger ticken die Uhren ganz anders
Europa liegt zum Greifen nah. Schon bei einigermaßen klarer Sicht zeichnet sich am gegenüberliegenden Ufer die spanische Costa de la Luz ab. Doch ins Ohr schleichen sich keine Flamenco-Klänge, sondern leises Geschepper typischer Bauchtanzmusik aus billigen Lautsprechern, die von benachbarten Gassen tönen und hier kaum noch vernehmbar sind.
Tanger ist Afrikas Brückenkopf nach Europa. Der marokkanische Hafen ist die erste Station, wenn man eine der zahlreichen Fähren vom spanischen Festland gen Süden genommen hat. Ein bisschen Afrika, ein bisschen Europa, viel Arabien: Tanger gibt sich multikulturell. Im vergangenen Jahrhundert hatte die Stadt einen internationalen Status, wurde von Franzosen, Spaniern, Briten und Italienern verwaltet.
Moscheen, Kirchen und Synagogen stehen einträchtig nebeneinander. Während jedoch Christen und Juden alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben als Gäste willkommen heißen, steht vor der Moschee ein grimmiger Wachposten, der mit eindeutiger Handbewegung signalisiert: Ungläubige sind nicht willkommen. Welch eine Arroganz des Islam, Andersgläubige frech als Ungläubige zu titulieren. Dabei wäre gerade Tanger, die Geburtsstadt des Forschungsreisenden Ibn Battuta, dazu prädestiniert, nicht nur eine Brücke zwischen den Kontinenten, sondern auch zwischen den drei großen monotheistischen Religionen zu bilden.
Die Schriftsteller hatten es schon mal vorgemacht. Tanger wurde Mitte des vergangenen Jahrhunderts Wohnsitz von Tennessee Williams, Jack Kerouac, Muhammad Asad, Paul Bowles, Truman Capote, Muhammad Choukri und William S. Burroughs.
Die Nordafrikaner sagen: In Tanger ticken die Uhren anders. Der Kaffee wird ohne Kardamom, Zimt und Ingwer serviert, ein normaler Espresso halt. Bis auf wenige Straßenverkäufer, die billige Armreifen an Touristen verhökern, halten sich die Händler stark zurück und belästigen die Ausländer nicht. Kreuzfahrt-Touristen wissen das zu schätzen, sie können nahezu unbehelligt bummeln und die exotischen Eindrücke aufnehmen.
Wenn sich Sandra und ihre Freundin, die an Bord der MS Delphin reisen, trotzdem belästigt fühlen, dann liegt das an ihrem allzu offenherzigen Auftreten. Blonde Haare, blaue Augen und ein tiefes Dekolleté - die jungen Marokkaner bekommen Stielaugen. Und darin liegt auch einer der Gründe, warum Moscheen in der islamischen Welt immer stärker abgeschottet werden. Zu oft sind Fremde unpassend gekleidet und mit Schuhen in die Gebetshäuser gelaufen.
Die Völkerfreundschaft funktioniert in Tanger trotzdem. Immer mehr Ausländer kaufen sich in der Altstadt eines der Häuser und renovieren es stilvoll. Oder man erwirbt Land in der Umgebung, beispielsweise nahe des Kaps Spartel, und bebaut es mit einer Villa.
Jürgen Leinen aus Dortmund hat sich mit seiner marokkanischen Frau Farida für ein verfallenes Haus in der Medina entschieden. Die beiden haben das Gebäude aufgestockt, so dass sie von der Dachterasse nun einen traumhaften Blick über die Stadt, den Hafen, den Atlantik und sogar bis Europa haben. Jürgen Leinen nutzt jede Gelegenheit, auf Flohmärkten oder in Abrisshäusern alte Bauelemente zu ergattern, die er dann bei der Restaurierung nutzt. Das junge Paar bewohnt nur zwei Räume selbst, die anderen werden an Urlauber vermietet.
Nun ist Tanger zwar kein typisches Ferienziel, doch Kenner wissen die tolle Atmosphäre bei Jürgen und Farida zu schätzen, genießen den Blick vom Dach des »La Tangerina«. Bei Pfefferminztee und Gebäck lassen sich dort tageweise Träume vom Leben in 1001 Nacht verwirklichen und marokkanische Gastfreundschaft genießen.
Tanger ist keine Stadt mit Sehenswürdigkeiten, sieht man mal von der eindrucksvollen Herkulesgrotte ab, in die das Wasser des Atlantik hineinschäumt. Aber wenn schon der saudische König hier eine prachtvolle Auslandsresidenz baut, dann muss der Ort etwas Besonderes haben. Und dieses Besondere ist eben nicht mit Worten zu beschreiben. Man muss es sich erwandern, mit Augen, Ohren und Nase erfahren. Irgendwann ist man dann in Afrika angekommen. Thomas Albertsen

Artikel vom 29.07.2006