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Am Berg Eiger
rutscht die
Ostflanke ab

Enormer Felssturz wegen Erwärmung

Von Heinz-Peter Dietrich
Grindelwald (dpa). Hansruedi Burgener, Wirt vom »Bäregg« in fast 1800 Meter Höhe im Schweizer Fremdenverkehrsort Grindelwald, hat alle Hände voll zu tun. Sein Restaurant liegt in Sichtweite der Ostflanke des berühmten Berges Eiger.

Hier drohen schon seit einiger Zeit auf 250 Meter Breite von einer Felsnase zwei Millionen Kubikmeter Fels ins Tal zu stürzen. »Die Wetterprognosen sind gut. Manch einer will sich dieses Naturschauspiel aus aller Nähe ansehen«, sagt Burgener.
Gestern Abend war es dann soweit. Mehrere Schaulustige konnten von eben diesem Restaurant aus sehen, wie sich schätzungsweise 500 000 bis 700 00 Tonnen Felsmasse auf den darunter liegenden Grindelwaldgletscher stürzten. Damit hatte sich gestern gut ein Drittel des absturzgefährdeten Felsens gelöst.
Am Eiger lässt sich derzeit erahnen, was die Klimaerwärmung für den Alpenraum bedeuten kann. Nicht nur die Gletscher schmelzen - auch die Bergbahnen stehen auf immer unsicher werdendem Grund. Geologe Hans Rudolf Keusen (65) verbringt jeden Tag am Berg. Seit Wochen beobachtet der »Katastrophenwarner«, der seit Jahren durch das Berner Oberland mit den Viertausendern Eiger, Mönch und Jungfrau streift, mit seinem Team die Bewegungen. Fast stündlich können die Geologen zur Zeit mit dem Laserscanner Veränderungen feststellen.
Vor einer Woche noch wurde der Felsriss mit der Hand vermessen, das ist jetzt zu riskant. Am Mittwoch hatten sich die Felsbewegungen auf 91 Zentimeter pro Tag verstärkt, sechs Meter breit war da der Spalt.
Zum Restaurant »Bäregg«, dessen Vorgänger »Stieregg« an anderer Stelle 2005 wegen Bergstürzen aufgegeben werden musste, pilgern Schaulustigen über einen Wanderweg. Hier wurden Informationstafeln aufgestellt, die über richtiges Verhalten im Falle eines Felssturzes an der Ostflanke des Eigers auf der gegenüberliegenden Talseite aufklären. Denn die Felsstürze kommen in immer kürzeren Intervallen. Es gebe zwar Staub und Lärm und kleinere Erdbeben. Auf keinen Fall bestehe aber eine Gefahr wie etwa an der Gotthardautobahn, wo 6000 Kubikmeter Felsen weggesprengt werden mussten. Dort hatten Felsstürze Ende Mai ein Paar in seinem Auto getötet. In Grindelwald stürzen die Felsen auf den unteren Grindelwaldgletscher, kurz bevor sich das Tal am Gletscherende zu einer Schlucht verengt. Mittlerweile hat der Bergschutt die Gletscherzunge zum Teil schon verdeckt.
Ursache für den Spalt sind Spannungen im Berg, die sich nach dem Rückgang des Gletschers entladen. Eindringendes Wasser trägt ebenfalls dazu bei, dass der Berg brüchig wird. Und dies wird sich auch fortsetzen: Steigen die Sommertemperaturen um drei Grad Celsius, verlieren die Gletscher 80 Prozent der Eisfläche, wie sie von 1971 bis 1990 bestand, fanden Forscher der Universität Zürich heraus. Und solche Temperaturänderungen gelten als realistisch.
Gefährdet sind auch die Bergbahnen in der Schweiz. In der Zone über 2800 Meter wird der Fels instabiler. Eis, das Generationen von Kletterern überquert haben, ist weg. 16 Prozent aller Bergbahnen stehen in Permafrostzonen und somit in Gebieten, die sich verändern. Millioneninvestitionen werden nötig, um Pfeiler vor dem Absacken zu bewahren. Die Bergbahn-Gesellschaften decken die Gletscher mit Folien ab, um das Abschmelzen zu verhindern. Und bei Bergstationen wird in Hohlräume sogar Kaltluft geblasen, um das Eis im Berg zu stabilisieren.

Artikel vom 14.07.2006