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Hab ich doch auch. Sie hat gesagt, ich könnte abhauen. Ich wollte Jago beim Ausladen helfen.«
»Jago ist durchaus in der Lage, das allein zu tun. Ich denke, Sie sollten wieder zu Mrs. Burbridge gehen, Millie. Sie können sich bestimmt noch irgendwie nützlich machen.«
Millie verdrehte übertrieben theatralisch die Augen, trollte sich aber widerspruchslos. Maycroft sagte: »Wieso rede ich mit dem Mädchen eigentlich immer wie ein Oberlehrer? Ob ich sie besser verstehen würde, wenn ich eine Tochter hätte? Meinen Sie, Millie kann sich hier überhaupt wohl fühlen?«

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oyde blickte auf und lächelte. »Machen Sie sich keine Gedanken, Rupert. Mrs. Burbridge kann sie prima gebrauchen, und die beiden verstehen sich gut. Es ist schön, einen jungen Menschen hier bei uns zu haben. Wenn Millie von Combe die Nase voll hat, wird sie schon verschwinden.«
»Ich vermute, Jago ist die Hauptattraktion. Ständig ist sie im Harbour Cottage. Ich hoffe, es gibt da keine Komplikationen. Er ist wirklich unersetzlich.«
»Ich denke, Jago kann mit jugendlicher Leidenschaft umgehen. Falls Sie sich Sorgen machen, Jago könnte sie verführen - oder sie ihn, was wahrscheinlicher wäre -, hören Sie auf. Es wird nicht vorkommen.«
»Ach nein?«
Adrian sagte sanft: »Nein, Rupert, ganz bestimmt nicht.«
»Na schön, das sollte mich beruhigen. Aber richtig Sorgen habe ich mir deswegen eigentlich nicht gemacht. Ich wüsste nicht, wo Jago die erforderliche Zeit oder Energie hernehmen sollte. Dennoch, für Sex finden die meisten Menschen irgendwie Zeit und Energie.«
Adrian sagte: »Soll ich runter zum Hafen gehen?«
»Nein, nein. Ich bin schon unterwegs.«
Boyde war nun wirklich der Letzte, den man bitten sollte, sich mit Oliver anzulegen. Eine Sekunde lang war Maycroft fast verärgert, dass der Vorschlag überhaupt gemacht worden war.
Die Strecke zum Hafen war einer seiner Lieblingswege. Normalerweise hob sich seine Stimmung, sobald er den Vorhof des Hauses durchquerte und den schmalen, mit Kies bestreuten Pfad zu der Treppe nahm, die hinunter über die Klippe zum Kai führte. Und jetzt lag der Hafen unter ihm wie ein buntes Bild aus einem Märchenbuch: die beiden gedrungenen Türme mit den Lichtern auf der Spitze zu beiden Seiten der Hafeneinfahrt, Jago Tamlyns schmuckes Cottage mit der Reihe großer Terrakottatöpfe, in denen der Bootsmann seine Sommergeranien züchtete, die aufgewickelten Taue und die makellos sauberen Poller, das ruhige Wasser im Hafenbecken und jenseits der Einfahrt das ruhelose Meer und die fernen Wirbel der gegenläufigen Gezeiten. Manchmal, wenn die Barkasse erwartet wurde, verließ Rupert Maycroft seinen Schreibtisch und ging zum Hafen, um in aller Ruhe nach ihr Ausschau zu halten, und empfand dabei das atavistische Vergnügen aller Inselbewohner, die über die Jahrhunderte auf die Ankunft lang erwarteter Schiffe gehofft hatten. Jetzt jedoch stieg er langsam die letzten Stufen hinab, wohl wissend, dass sein Nahen beobachtet wurde.

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liver stand starr vor Wut am Kai. Jago beachtete ihn nicht und entlud geschäftig die Barkasse. Padgett drückte sich mit aschfahlem Gesicht an die Kajütenwand, als stünde er vor einem Erschießungskommando.
Maycroft begann: »Ist was passiert?«
Alberne Frage. Die drückende Stille, Olivers weißes Gesicht, deuteten auf ein keineswegs belangloses Fehlverhalten von Padgett hin.
Oliver forderte: »Na los, sagtÕs ihm schon, einer von euch! Steht nicht einfach nur da, sagtÕs ihm.«
Jagos Stimme war ausdruckslos. »Mrs. Burbridges Bücher aus der Bibliothek, ein Paar Schuhe und mehrere Handtaschen von Mrs. Padgett, die Dan einem Secondhandladen schenken wollte, und Mr. Olivers Blutprobe sind über Bord gegangen.«

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livers Stimme hingegen war beherrscht, aber schneidend vor Empörung. »Man beachte die Reihenfolge. Mrs. Burbridges Bücher aus der Bibliothek - offensichtlich ein unersetzlicher Verlust für die Stadtbücherei. Und eine bedauernswerte Rentnerin, die in diesem wohltätigen Laden ein Paar billiger Schuhe kaufen will, wird bitter enttäuscht werden. Im Vergleich zu diesen erschütternden Katastrophen ist die Tatsache, dass mir erneut Blut abgenommen werden muss, natürlich nicht der Rede wert!«
Jago wollte etwas einwenden, doch Oliver zeigte auf Padgett. »Lassen Sie ihn antworten. Er ist kein Kind mehr. Es war sein Fehler.«

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adgett war bemüht, die Fassung zu bewahren. »Ich hatte mir das Päckchen mit der Blutprobe und den anderen Sachen in einem Seesack über die Schulter gehängt. Als ich mich über die Reling gebeugt und ins Wasser geguckt habe, ist der Sack runtergerutscht.«
Maycroft wandte sich an Jago. »Haben Sie nicht gestoppt? Hätten Sie den Sack nicht rausangeln können?«
»Es lag an den Schuhen, Mr. Maycroft. Die waren schwer, sind gleich abgesoffen. Ich hab Dan noch rufen hören, aber es war schon zu spät.«
Oliver sagte: »Ich will Sie sprechen, Maycroft. Sofort, bitte, und in Ihrem Büro.«
Maycroft sah Padgett an. »Wir unterhalten uns später.«
Schon wieder diese Oberlehrerstimme. Er wollte noch hinzufügen, Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken deswegen, aber er wusste, dass diese tröstlichen Worte Oliver nur weiter gereizt hätten. Padgetts entsetzter Gesichtsausdruck machte ihm Sorgen. Er stand in keinem Verhältnis zu dem Vergehen. Die Leihbücher würden bezahlt werden, der Verlust der Schuhe und Handtaschen war eher sentimentaler Natur und wurde wohl nur von Padgett selbst als solcher empfunden. Und Oliver mochte ja einer dieser unglücklichen Menschen sein, die eine pathologische Abneigung gegen Spritzen hatten, wie auch immer, wieso hatte er sich ausgerechnet auf der Insel Blut abnehmen lassen? Ein Krankenhaus auf dem Festland hätte vermutlich diese modernere Methode mit dem kleinen Stich in den Daumen angewandt, um ihm Blut abzunehmen. Bei dem Gedanken fielen ihm die Bluttests ein, die man rund vier Jahre zuvor bei seiner Frau gemacht hatte, als sie nach einem langen Flug wegen einer tiefen Venenthrombose behandelt werden musste. Dieser Gedanke half ihm in einem so unpassenden Moment nicht gerade weiter. Ein Blick auf Olivers weißes und starres Gesicht, in dem die vorspringenden Knochen aussahen wie gemeißelt, verstärkte noch die Erinnerung an ihre gemeinsamen Besuche im Warteraum der Krankenhausambulanz und das Gefühl seiner eigenen Unzulänglichkeit. Helen hätte gesagt: Biete dem Mann die Stirn. Du hast hier das Sagen. Lass dich nicht von ihm schikanieren. Ihm fehlt nichts Ernstes. Es ist nichts Schlimmes passiert. Er wird nicht dran sterben, dass er sich noch einmal Blut abnehmen lassen muss. Warum also hatte er in diesem Moment das irrationale Gefühl, dass genau das passieren könnte?

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ie gingen schweigend den Pfad zum Haus hoch, und Maycroft passte seine Schritte Olivers Tempo an. Er hatte den Mann erst zwei Tage zuvor getroffen, als es zu der erwarteten Aussprache wegen des Atlantic Cottage gekommen war. Jetzt, als Maycroft zu Oliver hinabschaute, auf den fein geschnittenen Kopf, der ihm nur bis zur Schulter reichte, und das volle weiße, im Wind wehende Haar, bemerkte er mit widerwilligem Mitgefühl, dass Oliver in der kurzen Zeit sichtlich gealtert schien. Irgendetwas - Selbstvertrauen, Arroganz, Hoffnung? - war ihm abhanden gekommen. Er bewegte sich schwerfällig, und dieser viel fotografierte Kopf auf dem kleinen geschwächten Körper wirkte viel zu schwer. Was fehlte dem Mann? Er war erst achtundsechzig, in heutiger Zeit kaum mehr als im fortgeschrittenen mittleren Alter, aber er sah aus wie über achtzig.
Im Büro stand Boyde auf, und als Maycroft ihm zunickte, verließ er wortlos den Raum.

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liver wollte sich nicht setzen, umklammerte die Rückenlehne des angebotenen Stuhls, um sich abzustützen, und starrte Maycroft über den Schreibtisch hinweg an. Seine Stimme war beherrscht, und er sprach ruhig. »Ich habe Ihnen nur zwei Dinge mitzuteilen, und ich werde mich kurz fassen. In meinem Testament habe ich verfügt, dass das, was das Finanzamt gnädigerweise übrig lässt, zu gleichen Teilen zwischen meiner Tochter und der Combe-Island-Stiftung aufgeteilt werden soll. Ich habe keine sonstigen Verwandten oder wohltätige Interessen und weiß Gott nicht den Wunsch, dem Staat bei seiner Aufgabe zu helfen, sich um die vom Schicksal Benachteiligten zu kümmern. Ich bin auf dieser Insel geboren worden, und ich glaube an das, was hier geleistet wird - oder geleistet wurde. Wenn mir nicht bestätigt wird, dass ich hier jederzeit willkommen bin, wenn ich den Wunsch dazu verspüre, und dass mir die Unterkunft zur Verfügung gestellt wird, die ich für meine Arbeit benötige, werde ich mein Testament ändern.«

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aycroft blieb ruhig. »Ist das nicht eine etwas drastische Reaktion auf ein offensichtliches Missgeschick?«
»Das war kein Missgeschick. Er hat es absichtlich getan.«
»Ganz sicher nicht. Warum auch? Es war unachtsam und dumm, aber es war keine Absicht.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.07.2006