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Er hatte ihre Testamente aufgesetzt, ihre Vermögenstransaktionen Gewinn bringend durchgeführt, sie vor den Amtsgerichten vertreten, deren Richter er allesamt gut kannte, wenn sie wegen Bagatelldelikten - meistens Strafzettel wegen Falschparkens oder überhöhter Geschwindigkeit - vorgeladen worden waren. Die Frau eines Geistlichen, die man beim Ladendiebstahl erwischt hatte, war seiner Erinnerung nach sein größter Fall gewesen, ein Skandal, der zur Freude der Gemeinde über Wochen für Klatsch und Tratsch gesorgt hatte. Er hatte mildernde Umstände beantragt, und nachdem er ein medizinisches Gutachten vorgelegt hatte, war die Angeklagte mit einer milden Geldstrafe davongekommen. Seine Mandanten würden ihn vermissen, würden sich mit sentimentaler Nostalgie an ihn erinnern, aber gewiss nicht lange. Die Kanzlei Maycroft, Forbes und Macintosh würde expandieren, neue Partner würden eingestellt, neue Büroräume eingerichtet. Der junge Macintosh, der im nächsten Jahr sein Examen machen würde, hatte ihm seine Pläne dargelegt. Diese hätte sein eigener Sohn, das einzige Kind von Helen und ihm, sicher vorbehaltlos befürwortet. Sein Sohn arbeitete jetzt in einer Kanzlei in der Londoner City mit über vierzig Fachanwälten, renommierten Mandanten und einem gerüttelt Maß an landesweiter Publicity.

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r selbst war nunmehr seit achtzehn Monaten auf Combe. Ohne den beruhigenden Trott, der sein Innerstes zusammengehalten hatte, fühlte er sich erstaunlicherweise mehr mit sich im Reinen und zugleich offener für kritische Selbstbetrachtungen. Zu Anfang hatte ihn die Insel verunsichert. Wie alles Schöne war sie sowohl tröstlich als auch aufwühlend. Sie besaß die ungewöhnliche Macht, zur Selbstreflexion zu zwingen - diese war nicht nur düsterer Natur, doch zumeist eindringlich genug, um Unbehagen auszulösen. Wie vorhersehbar, wie bequem seine achtundfünfzig Jahre gewesen waren: die überbehütete Kindheit, die sorgfältig ausgesuchte Grundschule, die Jahre bis achtzehn in einer kleineren, aber renommierten Privatschule, das erwartete gute Examen in Oxford. Er hatte sich dafür entschieden, beruflich in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, nicht etwa aus Begeisterung oder, wie ihm jetzt klar war, nach einem Prozess der sorgfältigen Entscheidungsfindung, sondern aus diffusem kindlichem Respekt heraus und dem Wissen, dass ihn ein sicherer Job erwartete. Seine Ehe war weniger eine leidenschaftliche Angelegenheit gewesen als vielmehr die Antwort auf das, was sich in dem kleinen Kreis geeigneter junger Frauen im Warnborough Tennis- und Schauspielclub anbot. Er hatte nie wirklich schwierige Entscheidungen getroffen, sich mit einem schweren Entschluss herumgeschlagen, einen gefährlichen Sport betrieben oder etwas erreicht, was über die Anforderungen seiner Arbeit hinausging. Lag das daran, so fragte er sich, dass er Einzelkind war, vergöttert und behütet? Die Sätze, die er in seiner Kindheit und Jugend am häufigsten gehört hatte, stammten von seiner Mutter: »Fass das nicht an, Schätzchen, das ist gefährlich. Geh da nicht hin, sonst fällst du. Lass dich nicht mit ihr ein, Schätzchen, sie passt nicht zu uns.«

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r glaubte, dass seine ersten achtzehn Monate auf Combe einigermaßen erfolgreich verlaufen waren. Jedenfalls sagte niemand etwas anderes. Aber ihm waren zwei Fehler aufgefallen, beides Neueinstellungen, von denen er jetzt wusste, dass sie unklug waren. Daniel Padgett und seine Mutter waren Ende Juni 2003 auf die Insel gekommen. Padgett hatte ihm geschrieben, nicht namentlich, gewiss, und sich erkundigt, ob Bedarf wäre für eine Köchin und eine Art Hausmeister. Der damalige Hausmeister stand kurz vor der Rente, und der Brief, gut formuliert, überzeugend und mit einem Empfehlungsschreiben als Anlage, schien genau zum rechten Zeitpunkt einzutreffen. Es wurde zwar keine Köchin gebraucht, doch Mrs. Plunkett hatte angedeutet, dass ihr eine helfende Hand ganz gelegen käme. Die Entscheidung war ein Fehler gewesen. Mrs. Padgett war schon damals eine schwer kranke Frau, die nur noch wenige Monate zu leben hatte, Monate, die sie offenbar unbedingt auf der Insel verbringen wollte, die für sie nach einem Besuch in der Kindheit zu einer Art Märchenparadies geworden war. Padgett hatte den größten Teil seiner Zeit damit verbracht, seine Mutter zu versorgen, wobei ihm Joanna Staveley und gelegentlich auch Mrs. Burbridge halfen. Keine der beiden hatte sich beklagt, aber Maycroft wusste, dass sie den Preis für seine Unbedachtheit zahlten. Dan Padgett war ein untadeliger Handwerker, aber es gelang ihm, ohne Worte deutlich zu machen, dass er nicht gern auf der Insel war. Maycroft hatte einmal mitbekommen, wie Mrs. Burbridge mit Mrs. Plunkett sprach. »Natürlich ist er kein echter Insulaner, und jetzt, wo seine Mutter nicht mehr lebt, glaube ich kaum, dass er noch lange hier bleibt.« Er ist kein Insulaner war auf Combe ein vernichtendes Urteil.

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nd dann war da noch die achtzehnjährige Millie Tranter. Er hatte sie eingestellt, weil Jago, der Bootsführer, sie obdachlos und bettelnd in Pentworthy aufgelesen und ihn angerufen hatte, um zu fragen, ob er sie mitbringen dürfe, bis sich für sie etwas ergeben hätte. Die einzigen Alternativen wären anscheinend gewesen, sie dem nächstbesten gierigen Mann zu überlassen oder sie der Polizei zu übergeben. Millie war mit der Barkasse angekommen, hatte ein Zimmer im ausgebauten Stallflügel bezogen und half jetzt Mrs. Burbridge mit der Wäsche und Mrs. Plunkett in der Küche. Immerhin stellte sie sich geschickt an, aber die Sorge um Millies Zukunft nagte an ihm. Kinder waren auf der Insel nicht gestattet, und Millie war zwar juristisch gesehen volljährig, gleichzeitig aber so unberechenbar und launisch wie ein Kind. Sie würde nicht ewig auf Combe bleiben können.

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aycroft blickte zu seinem Mitarbeiter hinüber, betrachtete das feinknochige, sensible Gesicht, die blasse Haut, der Sonne und Wind offenbar nichts anhaben konnten, die dunkle Haarsträhne, die in die Stirn fiel. Boyde war bereits seit einigen Monaten auf der Insel, als Maycroft eintraf, auch er vor dem Leben geflohen. Boyde war auf Betreiben von Mrs. Evelyn Burbridge nach Combe Island gekommen. Als Vikarswitwe unterhielt sie noch immer Kontakte zur Welt des Klerus. Maycroft hatte weder sie noch ihn direkt gefragt, aber er wusste wie wohl jeder auf der Insel, dass Boyde ein ehemaliger anglikanischer Geistlicher war, der sein Amt aufgegeben hatte, entweder weil er seinen Glauben verloren hatte oder infolge seines Alkoholismus, vielleicht von beidem etwas.

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iese Art von Dilemma ging über Maycrofts Horizont. Wein hatte für ihn stets einen Genuss bedeutet, keine Notwendigkeit. Und seine früheren sonntäglichen Kirchgänge mit Helen waren nichts anderes gewesen als eine regelmäßige Bejahung seiner Identität als Engländer und des gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens - eine keineswegs unangenehme Verpflichtung, der er ohne jede religiöse Inbrunst nachkam. Seine Eltern hatten jedweder Frömmelei misstraut, und abenteuerliche klerikale Neuerungen, die ihre behagliche Orthodoxie bedrohten, waren von seiner Mutter stets mit den Worten abgetan worden: »Wir sind Anglikaner, Schätzchen, wir tun so was nicht.« Er fand es seltsam, dass Boyde sein Amt als Geistlicher niedergelegt hatte, weil ihm Zweifel an der Glaubenslehre gekommen waren: Den öffentlichen Äußerungen mancher Bischöfe nach zu urteilen, waren Zweifel an der Glaubenslehre ja quasi ein Berufsrisiko anglikanischer Geistlicher. Was der Kirche ein Verlust, war für ihn ein Gewinn gewesen. Ohne Adrian Boyde am anderen Schreibtisch konnte er sich seine Arbeit auf Combe gar nicht mehr vorstellen.
Schuldbewusst wurde ihm klar, dass er nun bestimmt seit über fünf Minuten aus dem Fenster starrte. Entschlossen richtete er Augen und Gedanken wieder auf die Arbeit vor sich. Doch seine guten Absichten wurden vereitelt. Es klopfte an der Tür, und Millie Tranter stürmte herein. Sie kam nur selten ins Büro, und das immer auf die gleiche Weise, als würde sie sich diesseits der Tür materialisieren, noch ehe seine Ohren ihr Klopfen wahrgenommen hatten.

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hne den geringsten Versuch, ihre Begeisterung zu verbergen, platzte sie heraus: » Mr. Maycroft, unten am Hafen gibtÕs Riesenärger. Mr. Oliver hat gesagt, Sie sollen sofort kommen. Der tobt richtig! Hat irgendwas damit zu tun, dass Dan eine Blutprobe von ihm über Bord gefallen ist.«

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illie schien kälteunempfindlich zu sein. Sie feierte den warmen Tag, indem sie ihre Jeans mit dem wuchtigen Gürtel tief auf den Hüften trug und dazu ein kurzes T-Shirt, das kaum die kindlichen Brüste bedeckte. Ihr Bauch war frei, und sie hatte einen Goldstecker im Nabel. Maycroft dachte, dass er vielleicht besser mal ein Wörtchen mit Mrs. Burbridge über Millies Kleidung reden sollte. Zugegeben, vermutlich würde keiner der Gäste viel von ihr zu sehen bekommen, bekleidet oder unbekleidet, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vorgänger den Anblick von Millies nacktem Bauch geduldet hätte.
Jetzt sagte er: »Was haben Sie überhaupt am Hafen zu suchen gehabt, Millie? Sollten Sie nicht Mrs. Burbridge bei der Wäsche helfen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.07.2006