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Er hatte es nie für nötig befunden, sie zu fragen, wie sie eigentlich zu den vierteljährlichen und fast rituellen Pilgerfahrten nach Combe stand, genauso wenig, wie es ihm angemessen erschienen wäre, sich nach Tremletts Meinung zu erkundigen. Für ihn war es ganz selbstverständlich, dass die beiden willfährige Anhängsel seines Genies waren. Und wäre er derart herausgefordert worden - und das passierte nie, nicht mal von den lästigen inneren Regungen, die andere als Gewissen bezeichnen mochten -, er hätte seine Antwort parat gehabt: Sie hatten ihren Lebensweg gewählt, wurden angemessen bezahlt, gut verpflegt und untergebracht. Auf seinen internationalen Reisen lebten sie mit ihm im Luxus. Keiner von beiden schien Besseres zu wollen oder verdient zu haben.

A
nlässlich seiner ersten Rückkehr nach Combe sieben Jahre zuvor, hatte ihn vor allem das unvermutete Hochgefühl überrascht, das ihn erfasste, als er von der Barkasse an Land gegangen war. Er hatte diese Euphorie mit den romantischen Vorstellungen eines Jungen willkommen geheißen: ein Eroberer, der sein schwer erkämpftes Gebiet triumphal in Besitz nimmt, ein Entdecker, der endlich auf den sagenumwobenen Strand stößt. Und als er in jener Nacht vor dem Peregrine Cottage stand und zu der fernen Küste Cornwalls hinübersah, da wusste er, dass es richtig gewesen war zurückzukehren. Hier in diesem vom Meer geschützten Frieden ließe sich das unaufhaltsame Fortschreiten des körperlichen Verfalls vielleicht verlangsamen, hier würden seine Worte zu ihm zurückkommen.
Ebenso wusste er, dass er Atlantic Cottage haben musste, seit er es das erste Mal wieder gesehen hatte. In diesem steinernen Cottage, das aus den gefährlichen Tiefen der Klippe gleichsam hervorgewachsen zu sein schien, war er geboren worden, und hier würde er sterben. Dieses überwältigende Verlangen konnte mit räumlichen und praktischen Argumenten untermauert werden, allein, ihm lag etwas Elementareres zu Grunde, etwas in seinem Blut, das auf den immerwährenden rhythmischen Pulsschlag des Meeres ansprach. Sein Großvater war Seemann gewesen und auf See gestorben. Sein Vater war früher Bootsführer auf Combe gewesen, und er hatte bei ihm im Atlantic Cottage gewohnt, bis er mit sechzehn endlich den betrunkenen Tobsuchtsanfällen oder rührseligen Gefühlsaufwallungen seines Vaters entfliehen und sich allein daranmachen konnte, Schriftsteller zu werden. Während dieser entbehrungsreichen und einsamen Jahre der Heimatlosigkeit war Combe in seiner Erinnerung ein Ort der heftigen Emotionen, der Gefahr, eine Insel, die nicht besucht werden durfte, weil dort die vergessenen Traumata der Vergangenheit lauerten. Als er nun an der Klippe entlang Richtung Hafen wanderte, sinnierte er, wie seltsam es schien, dass er sich seines Gefühls so sicher war, nach Combe heimgekehrt zu sein.


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s war gerade drei Uhr vorbei, und Rupert Maycroft arbeitete in seinem Büro in der zweiten Etage des Turmes von Combe House an der Budgetplanung für das kommende Geschäftsjahr. An der gegenüberliegenden Wand stand ein ähnlicher Schreibtisch wie seiner, und dort war Adrian Boyde damit beschäftigt, die Konten für das Quartal zu überprüfen, das am 30. September geendet hatte. Beide Tätigkeiten waren lästig, und jeder arbeitete so leise, dass nur das Rascheln von Papier die Stille durchdrang. Dann reckte Maycroft sich in seinem Sessel und gönnte seinen Augen einen erholsamen Blick aus dem langen Bogenfenster. Das für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter hielt an. Es wehte nur ein leichter Wind, und das gekräuselte Meer lag unter einem wolkenlosen Himmel so tiefblau da wie im Hochsommer. Rechter Hand stand auf einem Felsvorsprung der alte Leuchtturm mit der schimmernd weißen Mauer und der roten Laterne obendrauf, in der das Leuchtfeuer für immer erloschen war, ein elegantes Phallussymbol der Vergangenheit, liebevoll restauriert, aber überflüssig. Manchmal irritierte ihn dieser Symbolcharakter. Linker Hand konnte er den geschwungenen Arm der Hafeneinfahrt erkennen und die gedrungenen Türme der Hafenlichter. Genau diese Aussicht und genau dieses Zimmer hatten für ihn den Ausschlag gegeben, nach Combe zu kommen.

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elbst jetzt, achtzehn Monate später, staunte er bisweilen darüber, dass er auf der Insel lebte. Er war erst achtundfünfzig, in guter körperlicher Verfassung und mit einem voll funktionsfähigen Verstand - soweit er das beurteilen konnte. Und doch hatte er sich liebend gern aus seiner Kleinstadt-Kanzlei zurückgezogen. Auslöser für die Entscheidung war der tödliche Autounfall seiner Frau vor zwei Jahren gewesen. Die Nachricht war ein Schock für ihn, rechnete man doch nie wirklich mit so etwas trotz aller Warnungen. Sie war auf dem Weg von Warnborough zu einem Buchclubtreffen in einem Nachbardorf gewesen und auf einer schmalen Landstraße, die ihr gefährlich vertraut war, zu schnell gefahren. In einer Kurve, die sie mit überhöhter Geschwindigkeit genommen hatte, war ihr Mercedes frontal mit einem Traktor zusammengestoßen. In den Wochen nach dem Unfall war der Schmerz der Trauer durch die anfallenden Formalitäten gedämpft worden: die polizeiliche Untersuchung, die Beerdigung, die schier unzähligen Beileidsbriefe, die beantwortet werden mussten, der lange Besuch seines Sohnes und seiner Schwiegertochter und die Gespräche über seine zukünftige häusliche Situation, die manchmal abliefen, als wäre er gar nicht anwesend. So kam es ihm wenigstens vor.

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ann, etwa zwei Monate nach dem Tod seiner Frau, übermannte ihn die Trauer, eine Mischung aus Reue, Schuldgefühl und einer diffusen, ziellosen Sehnsucht, und zwar derart unvermittelt, dass er von der Wucht ebenso überrascht war wie von der Plötzlichkeit. Der Stiftungsrat von Combe Island war ein Mandant der Kanzlei. Die ersten Mitglieder des Stiftungsrates hatten in London das finstere Zentrum windiger und durchtriebener Machenschaften gesehen, die nur darauf abzielten, arglose Provinzler in die Falle zu locken. Daher hatten sie eine etablierte heimische Anwaltskanzlei vorgezogen. Seine Kanzlei hatte den Stiftungsrat über Jahre hinweg betreut, und als ihm der Vorschlag unterbreitet wurde, für den in Rente gehenden Inselverwalter bis zur Benennung eines Nachfolgers einzuspringen, sah er eine willkommene Gelegenheit, aus seiner Tretmühle herauszukommen. Er schied gleich für immer aus der Kanzlei aus. Zwei Monate nach Antritt des Vertretungspostens auf Combe Island wurde ihm mitgeteilt, er könne die Stelle haben, wenn er wolle.

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r war froh gewesen, seinem alten Leben den Rücken kehren zu können. Die gastfreundlichen Damen in Warnborough, von denen die meisten mit Helen befreundet gewesen waren, linderten die milde Langeweile angesichts des häuslichen Lebens in der Provinz durch euphorisch bezeugten guten Willen. Im Geiste rief er sich die Zeile von Jane Austen in Erinnerung: Ein Witwer, der über ein Haus und ein gutes Einkommen verfügt, benötigt zwangsläufig eine Ehefrau. Es war nett gemeint, aber seit Helens Tod war er mit Nettigkeiten geradezu überhäuft worden. Allmählich hatte ihm vor den regelmäßigen wöchentlichen Einladungen zum Mittag- oder Abendessen gegraut. Hatte er tatsächlich seine Arbeit aufgegeben und diese Einsamkeit gewählt, nur um den ungebetenen Avancen der Witwen zu entkommen? In hellsichtigen Augenblicken wie diesem gestand er sich ein, dass dem möglicherweise so war. Die Kandidatinnen für Helens Nachfolge waren ihm so austauschbar erschienen, dass er sie kaum hatte auseinander halten können: in seinem Alter oder ein wenig jünger, recht attraktiv und manche sogar hübsch, freundlich, gut gekleidet und gepflegt. Sie waren einsam und setzten voraus, dass er es auch war. Bei jeder Dinnerparty hatte er Angst, die Namen zu vergessen oder stets dieselben langweiligen Fragen nach Kindern, Urlauben oder Hobbys zu stellen, die er bereits gestellt hatte, und das mit dem gleichen geheuchelten Interesse. Er konnte sich lebhaft die aufgeregten Telefongespräche vorstellen, die seine jeweilige Gastgeberin nach einer genau kalkulierten Wartezeit führte: Wie hast du dich mit Rupert Maycroft verstanden? Ihr habt euch doch anscheinend gut unterhalten? Hat er dich schon angerufen? Er hatte nicht angerufen, aber gewusst, dass er es eines Tages in einem Anfall von stiller Verzweiflung, Einsamkeit oder Schwäche tun würde.

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eine Entscheidung, die Beteiligung an der Kanzlei aufzugeben und - zunächst vorübergehend - nach Combe Island zu ziehen, war, wie nicht anders zu erwarten, mit allgemeinem Bedauern aufgenommen worden. Alle hatten ihm beteuert, wie schmerzhaft man ihn vermissen werde, wie sehr man ihn schätze. Es war jedoch ein harter Schlag für ihn gewesen, dass niemand Anstalten machte, ihn umzustimmen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine langjährigen Mandanten, die er in der Mehrzahl von seinem Vater übernommen hatte, ihn geachtet und vielleicht sogar gemocht hatten. Für sie war er der typische Familienanwalt alter Schule gewesen, der Freund und Vertraute, Bewahrer von Geheimnissen, Beschützer und Berater. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.07.2006