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Die erfolgreichsten Ehen waren die, in denen beide Partner das Gefühl hatten, etwas gewonnen zu haben.
Es hätte alles so weitergehen können - obwohl er sich nie darauf verlassen hatte -, wäre Miranda nicht geboren worden. In diesem Punkt nahm er die Hauptverantwortung auf sich. Mit sechsunddreißig hatte er zum ersten Mal ein irrationales Verlangen verspürt: den Wunsch, einen Sohn oder zumindest ein Kind zu haben, resultierend aus der Erkenntnis, dass sich ihm als überzeugtem Atheisten damit zumindest die Hoffnung auf eine Art Ersatzunsterblichkeit bot. Elternschaft war schließlich eine der Absolutheiten der menschlichen Existenz. Seine Geburt hatte außerhalb seiner Macht gelegen, sein Tod war unausweichlich und würde wahrscheinlich ebenso unangenehm sein wie die Geburt, Sex hatte er mehr oder weniger unter Kontrolle. Blieb noch die Elternschaft. Sich dieser universellen Hommage an den menschlichen Optimismus zu entziehen war für einen Romanautor gleichbedeutend mit einer Erfahrenslücke, die der Entfaltung seines Talentes Grenzen setzen könnte. Die Geburt war ein Fiasko. Trotz der teuren Klinik waren die Wehen endlos und die Betreuung schlecht, die schließlich vorgenommene Zangenentbindung ungemein schmerzhaft, die Anästhesie nicht so effektiv, wie Sydney gehofft hatte. Die instinktive Zärtlichkeit, die kurz aufgekeimt war, als er zum ersten Mal die schleimige und blutige Nacktheit seiner Tochter sah, erstarb rasch wieder. Er bezweifelte, dass Sydney sie überhaupt je empfunden hatte. Vielleicht lag es ja mit daran, dass das Baby sofort auf die Intensivstation gebracht worden war.
Als er sie besuchte, sagte er: »Möchtest du das Baby nicht in den Arm nehmen?«

S
ie drehte rastlos den Kopf auf dem Kissen. »Himmelherrgott, lass mich doch ausruhen! Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie rumgereicht werden will, wenn sie sich so mies fühlt wie ich.«
»Wie soll sie heißen?« Darüber hatten sie bisher gar nicht geredet.

M
iranda, dachte ich. Ist schließlich ein Wunder, dass sie noch lebt. Und genauso ein Wunder, dass ich noch lebe - ein saumäßiges Wunder, um genau zu sein. Komm morgen wieder, ja? Ich muss jetzt schlafen. Und sag allen, dass ich keinen Besuch haben will. Eins dieser Familienfotos, Gattin im Bett sitzend, mit vor Mutterglück roten Bäckchen, den präsentablen Säugling im Arm, kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen. Und eins sag ich dir, von dieser brutalen Schinderei hab ich die Nase voll.«

S
ie war eine überwiegend abwesende Mutter, mit dem Kind in dem Haus in Chelsea liebevoller, als er gedacht hatte, aber häufiger auf Reisen. Er hatte inzwischen Geld, so dass sie sich mit ihrem gemeinsamen Einkommen eine Kinderfrau, eine Hauswirtschafterin und eine tägliche Hilfe leisten konnten. Sein eigenes Arbeitszimmer ganz oben im Haus war für das Kind tabu, doch wenn er herunterkam, folgte ihm die Kleine wie ein Hündchen, distanziert und wortkarg, offenbar zufrieden. Es konnte nicht immer so bleiben.
Als Miranda vier Jahre alt war, sagte Sydney während einer ihrer Stippvisiten zu Hause: »So kann es nicht weitergehen. Sie braucht Kontakt zu anderen Kindern. Es gibt Schulen, die nehmen schon Dreijährige auf. Ich sag Judith, sie soll sich da mal schlau machen.«

J
udith war ihre Sekretärin, eine ungemein tüchtige Frau, und sie ging nicht nur tüchtig, sondern verblüffend sensibel zu Werke. Es wurden Broschüren angefordert, Besuche gemacht, Empfehlungen gesammelt. Am Ende schaffte sie es, die Eheleute zusammenzubringen, und erstattete ihnen mit einem Ordner in der Hand Bericht. »High Trees bei Chichester macht mir den besten Eindruck. Es ist ein schönes Haus mit einem großen Garten und nicht allzu weit vom Meer entfernt. Die Kinder kamen mir sehr fröhlich vor, als ich dort war, und ich habe mir die Küche angesehen und später gemeinsam mit den Kleineren zusammen gegessen, im so genannten Kindergartenflügel. Viele von den Kindern haben Eltern, die in Übersee arbeiten, und der Leiterin scheint die Gesundheit und allgemeine Zufriedenheit ihrer Schützlinge eher am Herzen zu liegen als schulische Leistungen. Das ist vielleicht nicht so schlimm, Sie sagten ja, dass Miranda keine überdurchschnittliche Intelligenz erkennen lässt. Ich denke, es würde ihr dort gefallen. Ich könnte einen Besuch vereinbaren, falls Sie die Leiterin kennen lernen und sich ein eigenes Bild von der Schule machen möchten.«

H
interher hatte Sydney gesagt: »Ich könnte nächsten Mittwoch am Nachmittag, und du solltest mitkommen. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn sich herumspräche, wir hätten sie in eine Schule abgeschoben, die wir uns vorher nicht mal beide angesehen haben.«
Also waren sie zusammen hingefahren, so distanziert und einander fremd, als wären sie offizielle Schulinspektoren. Sydney spielte perfekt die Rolle der besorgten Mutter. Ihre Analyse der Bedürfnisse ihrer Tochter und der elterlichen Hoffnungen für sie war beeindruckend. Er konnte es kaum erwarten, zurück in sein Arbeitszimmer zu kommen und alles aufzuschreiben. Aber die Kinder wirkten tatsächlich uneingeschränkt glücklich, und keine Woche später wurde Miranda dorthin geschickt. Die Schule betreute die Schüler nicht nur während des Schuljahrs, sondern auch in den Ferien, und wenn Miranda gelegentlich einen Teil der freien Zeit zu Hause verbrachte, was selten vorkam, schien sie Heimweh nach High Trees zu haben. Nach High Trees folgte der Besuch eines weiteren Internats, das nicht nur die Art von quasi-mütterlicher Zuwendung bot, die Sydney für wünschenswert hielt, sondern auch eine angemessene gründliche Allgemeinbildung vermittelte. Die Abschlussprüfung verlief zwar nicht gerade auf allerhöchstem Niveau, doch Oliver sagte sich, dass Miranda ohnehin kaum das Zeug für eine Eliteschule wie das Cheltenham LadiesĂ• College oder St. PaulĂ•s besaß.
Miranda war sechzehn, als er und Sydney sich scheiden ließen. Er war erstaunt, mit welcher Leidenschaft Sydney ihm seine Unzulänglichkeiten auflistete.

D
u bist ein richtiger Widerling, egoistisch, grob, erbärmlich. Ist dir wirklich nicht klar, in welchem Maße du anderen das Leben aussaugst und sie benutzt? Warum wolltest du bei Mirandas Geburt dabei sein? Blut und unappetitliche Sachen sind doch sonst nicht dein Fall, oder? Und es ging dir nicht um mich. Falls du in dem Moment überhaupt irgendwas für mich empfunden hast, dann Ekel. Du hast gedacht, du könntest vielleicht was übers Kinderkriegen schreiben, und das hast du ja dann auch. Du musst anwesend sein, nicht wahr? Du musst alles hören und sehen und ganz genau beobachten. Erst wenn du die körperlichen Details richtig beschrieben hast, kannst du deine ganzen psychologischen Einsichten produzieren, diese ganze Menschlichkeit. Wie hieß es doch gleich in der letzten Rezension im Guardian? Die größtmögliche Annäherung an einen modernen Henry James! Und sicher, die Worte beherrschst du, nicht wahr? Das muss ich dir lassen. Tja, ich habe meine eigenen Worte. Ich brauche dein Talent nicht, deinen Ruhm, dein Geld oder deine gelegentlichen Aufmerksamkeiten im Bett. Wir sollten uns zivilisiert scheiden lassen. Ich bin nicht scharf darauf, unser Scheitern publik zu machen. Es trifft sich gut, dass man mir einen Job in Washington angeboten hat. Der wird mich die nächsten drei Jahre beschäftigen.«

E
r hatte gesagt: »Und was wird mit Miranda? Sie kann es nicht erwarten, die Schule zu verlassen.«
»Das sagst du. Mit mir spricht das Mädchen ja kaum. Als Kind hat sie das getan, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht, was mal aus ihr werden soll. Soweit ich das sehe, interessiert sie sich für gar nichts.«
»Ich glaube, sie mag Vögel. Zumindest schneidet sie Bilder von Vögeln aus und heftet sie an die Pinwand in ihrem Zimmer.«

E
r hatte sich innerlich beglückwünscht. Ihm war etwas aufgefallen, das Sydney entgangen war. Die Beobachtung war der Beweis für seine verantwortungsbewusste Vaterschaft.
»Tja, in Washington wird sie nicht viele Vögel entdecken. Sie sollte hier bleiben. Was soll ich dort auch mit ihr anfangen?«
»Und ich? Sie sollte bei ihrer Mutter sein.«

D
a hatte sie gelacht. »Ich bitte dich, so abgeschmackt bist du doch sonst nicht! Sie könnte dir ja den Haushalt führen. Ihr könntet zusammen Urlaub auf dieser Insel machen, wo du geboren bist. Da gibt es bestimmt genug Vögel für sie. Und du sparst das Geld für die Hauswirtschafterin.«

E
r hatte die Personalkosten gespart, und auf Combe hatte es genug Vögel gegeben, obwohl die erwachsene Miranda nicht mehr die gleiche Begeisterung fürs Vögelbeobachten an den Tag legte wie als Kind. Zumindest hatte sie in der Schule Kochen gelernt. Über andere Qualifikationen verfügte sie nicht, als sie gerade sechzehnjährig mit einem mittelmäßigen Zeugnis abging. Die vergangenen sechzehn Jahre hatte sie als seine Hauswirtschafterin bei ihm gewohnt und ihn auf Reisen begleitet, unauffällig tüchtig, klaglos, offenbar zufrieden.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.07.2006