25.07.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Dann werde ich sehen, was sich machen lässt, und wir könnten es einen Monat lang probieren. Sollten wir nicht miteinander auskommen, können wir uns ohne böses Blut wieder trennen.«
Das war fünfzehn Jahre her, und sie waren noch zusammen. Er hatte sich als vorzüglicher Diener erwiesen und als erstaunlich guter Koch. Immer öfter nahm sie ihr Abendessen im Atlantic Cottage ein statt im Haus. Zweimal im Jahr beantragte er für jeweils genau zehn Tage Urlaub. Sie hatte keine Ahnung, wohin er fuhr oder was er machte, und er vertraute es ihr auch nicht an. Sie war stets davon ausgegangen, dass die Menschen, die sich auf der Insel niederließen, vor irgendetwas flohen - selbst wenn, wie in ihrem Fall, die Gründe bei den Unzufriedenen ihrer Generation zu verbreitet waren, als dass sie groß darüber nachgedacht hätte: Lärm, Mobiltelefone, Vandalismus, betrunkene Flegel, Political Correctness, Inkompetenz und die Diffamierung alles Überdurchschnittlichen als elitär. Sie wusste jetzt nicht mehr über ihn als damals, als er noch ihren Vater gefahren hatte, und da hatte sie ihn nur selten gesehen, das kantige, unbewegliche Gesicht, die Augen halb unter dem Schirm der Chauffeursmütze verborgen, das Haar für einen Mann ungewöhnlich blond und in dem dicken Nacken zu einem präzisen Halbmond geschnitten. Sie hatten in eine Routine gefunden, die ihnen beiden behagte. Jeden Nachmittag um fünf Uhr setzten sie sich bei ihr im Cottage zusammen und spielten eine Partie Scrabble, um im Anschluss daran ein oder zwei Gläser Rotwein zu trinken - die einzige Gelegenheit, bei der sie gemeinsam etwas zu sich nahmen. Dann kehrte er in sein eigenes Cottage zurück und bereitete für sie das Abendessen zu.

E
r war als Teil des Insellebens akzeptiert, aber sie spürte, dass sein privilegiertes, nicht übermäßig arbeitsreiches Leben beim übrigen Personal einen gewissen unausgesprochenen Groll hervorrief. Gewiss, er hatte seine ganz eigene, nicht schriftlich fixierte Jobbeschreibung, doch selbst in seltenen Notfällen bot er nie seine Hilfe an. Die anderen glaubten, dass er ihr als der letzten Holcombe treu ergeben war. Sie hielt das für unwahrscheinlich und hätte es auch nicht begrüßt. Sie musste jedoch einräumen, dass er Gefahr lief, für sie unersetzlich zu werden.

S
ie begab sich in ihr Schlafzimmer mit den zwei Fenstern, von denen aus sie aufs Meer und über die Insel blicken konnte, ging zum Nordfenster und stieß einen Flügel auf. Es war eine stürmische Nacht gewesen, doch der Wind hatte sich jetzt zu einer kräftigen Brise abgeschwächt. Vor dem Haus stieg der Boden sachte an, und oben auf dem Kamm stand eine reglose Gestalt, so fest verwurzelt wie eine Statue. Nathan Oliver starrte wie gebannt auf das Cottage. Er war keine zwanzig Meter entfernt, und ihr war klar, dass er sie gesehen haben musste. Sie wich vom Fenster zurück, beobachtete ihn aber weiter so aufmerksam, wie sie wusste, dass er sie beobachtete. Er rührte sich nicht, und sein bewegungsloser Körper bildete einen Kontrast zu dem wirbelnden weißen Haar, das ihm vom Wind zerzaust wurde. Er hätte ein alttestamentarischer Prophet sein können, der einen Fluch herabschleudert, wäre er nicht so beunruhigend starr geblieben. Er hielt den Blick auf das Cottage gerichtet, und in seinen Augen lag ein brennendes Verlangen, das, wie sie deutlich spürte, stärker war als die rationale Begründung, mit der er seinen Wunsch erklärte, ihr Cottage haben zu wollen -, dass er nämlich stets in Begleitung seiner Tochter Miranda und seines Lektors Dennis Tremlett nach Combe Island komme und daher zwei angrenzende Cottages benötige. Atlantic Cottage, das einzige mit einem zusätzlichen Anbau, war das attraktivste auf der Insel. Hatte er ebenso wie sie das Bedürfnis, auf dieser gefährlichen Klippe zu leben, Tag und Nacht das Donnern der Wellen zu hören, die sich zehn Meter tiefer gegen die Felsen warfen? Immerhin war er in diesem Cottage zur Welt gekommen und aufgewachsen, bis er Combe mit sechzehn Jahren ohne jede Erklärung verließ und sich einsam und allein daranmachte, ein großer Schriftsteller zu werden. War das der Kern des Ganzen? Glaubte er inzwischen, dass sein Talent ohne dieses Cottage verkümmern würde? Er war zwölf Jahre jünger als sie, doch bewegte ihn die Vorahnung, dass sich sein Werk und vielleicht auch sein Leben dem Ende näherten und sein Geist nur hier, wo er geboren worden war, Ruhe finden konnte?

Z
um ersten Mal fühlte sie sich von der Kraft seines Willens bedroht. Und nie war sie frei von ihm. In den letzten sieben Jahren hatte er sich angewöhnt, alle drei Monate auf die Insel zu kommen und exakt zwei Wochen zu bleiben. Selbst wenn es ihm nicht möglich war, sie zu vertreiben - wie denn auch? -, fühlte sie sich durch seine regelmäßige Anwesenheit auf Combe gestört. Es gab wenig, was ihr Angst machte, aber irrationales Verhalten zählte dazu. War Olivers Besessenheit das erschreckende Symptom für etwas noch Unheilvolleres? Wurde er wahnsinnig? Sie harrte weiter aus, wollte nicht zum Frühstück gehen, solange er dort stand, und es dauerte fünf Minuten, bis er sich endlich abwandte und hinter dem Kamm verschwand.


2
Nathan Oliver lebte in London nach einem festgelegten Tagesablauf und daran änderte sich nur wenig, wenn er alle Vierteljahre die Insel besuchte. Waren sie auf Combe, hielten er und seine Tochter es ganz ähnlich wie die meisten Besucher. Im Lauf des Morgens wurde von Dan Padgett ein leichtes Mittagessen geliefert, meistens Suppe, Aufschnitt und Salat, je nachdem, was Miranda telefonisch bei der Hauswirtschafterin Mrs. Burbridge bestellt hatte, die ihrerseits die Köchin instruierte. Das Dinner konnte im Cottage oder im Haupthaus eingenommen werden, aber Oliver zog es vor, im Peregrine Cottage zu speisen, und Miranda kochte für ihn.
Am Freitagmorgen hatte er vier Stunden mit Dennis Tremlett seinen neuen Roman redigiert. Er erledigte das gern anhand der ersten Druckfahne, eine Marotte, die sein Verlag notgedrungen akzeptierte. Er nahm umfangreiche Korrekturen vor, sogar Änderungen am Plot, indem er mit seiner winzigen, aufrechten Handschrift die Rückseite der Fahnen beschrieb und die Seiten dann an Tremlett weiterreichte, der das Geschriebene lesbarer in einen zweiten Fahnensatz übertrug. Um ein Uhr hatten sie Mittagspause gemacht, und um zwei war die einfache Mahlzeit beendet. Miranda hatte den Abwasch erledigt und die Essensbehälter zur späteren Abholung in den Vorraum gestellt. Tremlett war früher gegangen, um zusammen mit dem Personal im Speisezimmer des Haupthauses zu essen. Normalerweise schlief Oliver nachmittags bis halb vier und wurde dann von Miranda geweckt, die ihm seinen Tee brachte. An diesem Tag beschloss er, auf den Schlaf zu verzichten und stattdessen zum Hafen zu gehen, weil er dort sein wollte, wenn der Bootsführer Jago mit der Barkasse zurückkam. Er musste sich unbedingt vergewissern, dass eine Blutprobe, die Joanna Staveley am Vortag von ihm genommen hatte, unbeschadet das Labor des Krankenhauses erreicht hatte.

U
m halb drei hatte Miranda sich ein Fernglas umgehängt und verkündet, sie wolle an der Nordwestküste Vögel beobachten. Kurz nachdem sie fort war, räumte er die beiden Fahnensätze in die Schreibtischschublade. Er verließ das Cottage, ohne die Tür abzuschließen, und ging dann an der Klippe entlang zu dem steilen Steinpfad, der hinunter zum Hafen führte. Miranda musste ein flottes Tempo angeschlagen haben, denn es war weit und breit nichts von ihr zu sehen.
Er hatte mit vierunddreißig geheiratet, und zwar weniger aufgrund sexueller oder psychischer Bedürfnisse, als vielmehr aus der Überzeugung heraus, dass ein heterosexueller Junggeselle leicht befremdlich wirkte und schnell in den Verdacht geriet, entweder verschroben zu sein oder unfähig, eine passende Partnerin für sich zu gewinnen, was noch beschämender war. Er hatte keine größeren Schwierigkeiten erwartet, war aber gewillt gewesen, sich Zeit zu lassen. Immerhin war er eine gute Partie. Er hatte nicht vor, sich peinlicherweise einen Korb einzuhandeln. Doch wie sich herausstellte, gestaltete sich das Projekt, dem er sich ohne jeden Enthusiasmus widmete, erstaunlich rasch und unkompliziert. Nach nur zwei Monaten gemeinsamer Abendessen und gelegentlicher Übernachtungen in einem diskreten Landhotel war er zu der Überzeugung gelangt, dass Sydney Bellinger eine gute Wahl wäre, und sie hatte deutlich gemacht, dass sie diese Ansicht teilte. Sie hatte sich damals bereits einen Ruf als renommierte politische Journalistin erworben. Die Verwirrung, die ihr uneindeutiger Vorname mitunter auslöste, war dabei stets von Vorteil gewesen. Ihre aparte Erscheinung war zwar eher Geld, gekonntem Make-up und einem makellosen Geschmack in Sachen Kleidung zuzuschreiben als der natürlichen Veranlagung, aber er hatte nie mehr verlangt - romantische Liebe ganz sicher nicht. Obwohl er sein sexuelles Verlangen zu sehr kontrollierte, um sich je davon beherrschen zu lassen, bescherten ihm die Nächte mit ihr so viel Vergnügen, wie er von einer Frau nur erwarten konnte. Sie gab das Tempo vor, er fügte sich. Er vermutete, dass sie für sich ähnliche Vorteile in ihrer Verbindung sah wie er, und das erschien ihm vernünftig. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.07.2006