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Sie beide hatten sich im Supermarkt in der Nähe kennen gelernt, einer bekannten Kontaktbörse für die Einsamen oder vorübergehend Verlassenen. Sie hatte ihn wohl eine Weile heimlich beobachtet und dann den ersten Schritt getan, indem sie ihn bat, ihr eine Dose Tomaten vom Regal zu holen, das praktischerweise zu hoch für sie war. Er war hin und weg von ihrem Aussehen, dem feinen ovalen Gesicht, dem glatten schwarzen Haar, dem Fransenpony über den leicht asiatisch anmutenden Augen, die ihr einen faszinierend exotischen Touch verliehen. In Wahrheit war sie durch und durch Engländerin und hatte einen ähnlichen gesellschaftlichen Hintergrund wie er. Sie hätte wunderbar in den Salon seiner Mutter zu Hause gepasst. Aber Beverley hatte für ihre Karriere jedwedes Mittelschichtgebaren samt dazugehörigem Akzent abgelegt und ihren unmodischen Vornamen geopfert. Ihre Serienrolle als ungeratene Tochter des Dorfgastwirts beflügelte die Fantasie der Zuschauer und man munkelte, dass die Figur ausgebaut werden sollte. Unter den faszinierenden Möglichkeiten wurden eine Vergewaltigung genannt, ein uneheliches Kind, eine Affäre mit dem Organisten der Kirche, vielleicht sogar ein Mord -, obwohl natürlich weder sie noch das Baby Opfer sein würden. Das Publikum, so hatte sie Benton erklärt, wollte keine toten Babys sehen. Am kurzlebigen Glitzerfirmament der Popwelt war Beverley ein aufgehender Stern.

N
ach dem Sex, den Beverley gern einfallsreich gestaltete, machte sie ihre Yogaübungen. Benton lag dann aufgestützt im Bett und beobachtete die ungewöhnlichen Verrenkungen mit faszinierter und nachsichtiger Zuneigung. In solchen Momenten wusste er, dass seine Gefühle der Liebe gefährlich nahe kamen, aber er rechnete nicht damit, dass die Affäre von Dauer war.
Er war noch dabei, seine Einkäufe auszupacken und Platz dafür im Kühlschrank zu schaffen, als das spezielle Handy auf seinem Nachttisch klingelte. Jeden Abend vergewisserte er sich mit einer tastenden Hand, dass es an Ort und Stelle lag. Und wenn er morgens zu seinem Interimsjob bei der Metropolitan Police aufbrach und es in die Tasche steckte, wünschte er sich mit aller Kraft, es möge klingeln. Jetzt knallte er die Kühlschranktür zu und stürmte los, um den Anruf entgegenzunehmen, als hätte er Angst, das Klingeln könnte verstummen. Er hörte sich die kurze Mitteilung an, sagte: »Ja, Sir«, und unterbrach die Verbindung. Der Tag war plötzlich ein anderer.
Seine Reisetasche war wie stets gepackt. Er hatte Anweisung bekommen, Kamera und Fernglas mitzubringen, weil sie besser waren als die der anderen Teammitglieder. Sie würden also auf sich gestellt sein, ohne Unterstützung, kein Fotograf vom Erkennungsdienst, solange es nicht unbedingt erforderlich wurde. Diese Geheimhaltung steigerte seine Begeisterung. Und nun musste er nur noch zwei kurze Anrufe erledigen, einen bei seiner Mutter, den zweiten bei Beverley. Beide, so vermutete er, würden leichte Verärgerung auslösen, aber keinen Schmerz. In froher und zugleich banger Erwartung richtete er seine Gedanken auf die Herausforderungen, die ihn auf dieser noch unbekannten Insel vor der Küste erwarteten.

Buch einsTod auf der Insel
1
Am Vortag trat Emily Holcombe um sieben Uhr morgens im Atlantic Cottage auf Combe Island aus der Dusche, wickelte sich ein Badetuch um die Hüften und begann, sich Arme und Hals mit Feuchtigkeitscreme einzureiben. Seit ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag vor fünf Jahren war das für sie ein tägliches Ritual geworden, doch sie gab sich keinerlei übertriebenem Optimismus hin, dass sich damit mehr erreichen ließ, als die Verwüstungen des Alters vorübergehend zu lindern, und eigentlich war es ihr egal. Als junge Frau und in den mittleren Jahren hatte sie sich nicht sonderlich um ihr Aussehen gekümmert, und gelegentlich kam ihr der Gedanke, ob es nicht sinnlos und ein wenig lächerlich war, sich nun im hohen Alter der zeitraubenden Prozedur zu unterziehen, wo nur noch sie selbst sich am Ergebnis erfreuen konnte. Andererseits, hatte sie überhaupt je irgendwen erfreuen wollen? Sie war immer attraktiv gewesen, manche hatten sie sogar schön gefunden, ganz sicher nicht hübsch, ihre kräftigen Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen, die großen haselnussbraunen Augen unter geraden Brauen, die schmale, leicht gebogene Nase, und den breiten, wohlgeformten Mund, der trügerisch großzügig wirken konnte. Manche Männer hatten sich von ihr einschüchtern lassen, andere - und zu ihnen zählten die Intelligenteren - fühlten sich von ihrer beißenden Schlagfertigkeit angezogen und reagierten auf ihre verborgene Sexualität. All ihre Liebhaber hatten ihr Lust geschenkt, keiner ihr Schmerz zugefügt, und der Schmerz, den sie ihnen bereitet hatte, war längst vergessen und hatte ihr Gewissen selbst damals nie belastet.

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etzt, wo alle Leidenschaft aufgebraucht war, hatte sie sich auf die geliebte Insel ihrer Kindheit zurückgezogen, in das steinerne Cottage am Klippenrand, in dem sie den Rest ihrer Tage verbringen wollte. Und sie war nicht gewillt, es sich von irgendwem wegnehmen zu lassen, schon gar nicht von Nathan Oliver. Sie achtete ihn als Schriftsteller - immerhin galt er als einer der bedeutendsten Romanciers weltweit -, aber sie war nie der Ansicht gewesen, dass großes Talent oder Genie einen Mann dazu berechtigten, selbstsüchtiger und hemmungsloser zu sein als die überwiegende Mehrheit seiner Geschlechtsgenossen.

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ie band sich die Uhr. Bis sie soweit war, in ihr Schlafzimmer zurückzugehen, würde Roughtwood das Tablett mit dem Tee abgeräumt haben, der ihr pünktlich jeden Morgen um halb sieben gebracht wurde, und im Esszimmer würde das Frühstück bereitstehen: selbst gemachtes Müsli und Orangenmarmelade, ungesalzene Butter, Kaffee und warme Milch. Den Toast würde er erst dann rösten, wenn er sie an der Küchentür vorbeigehen hörte. Der Gedanke an Roughtwood erfüllte sie mit Zufriedenheit und mit einer gewissen Zuneigung. Sie hatte für sie beide eine gute Entscheidung getroffen. Er war der Chauffeur ihres Vaters gewesen, und als sie, die Letzte ihrer Familie, auf dem Familiensitz am Rande von Exmoor eingetroffen war, um die restlichen Details mit dem Auktionator zu besprechen und einige wenige Stücke auszusuchen, die sie behalten wollte, hatte er sie um ein Gespräch gebeten.
»Da Sie sich dauerhaft auf der Insel niederlassen wollen, Madam, möchte ich mich um den Posten des Butlers bewerben.«
Combe Island war in der Familie und auch vom Personal immer nur als die »Insel« bezeichnet worden, so wie Combe House auf der Insel nur das »Haus« hieß.

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ie war aufgestanden und hatte gesagt: »Was um alles in der Welt soll ich mit einem Butler, Roughtwood? Wir hatten hier schon seit der Zeit meines Großvaters keinen Butler mehr, und einen Fahrer werde ich nicht brauchen. Wie Sie wissen, sind auf der Insel keine Autos erlaubt, nur der Wagen, mit dem das Essen zu den Cottages gebracht wird.«
»Ich meinte das Wort Butler ganz allgemein, Madam. Mir schwebten die Pflichten eines persönlichen Dieners vor, aber da diese Bezeichnung implizieren könnte, dass ich einem Gentleman diene, fand ich den Begriff Butler passender, wenn auch nicht ganz zutreffend.«
»Roughtwood, Sie haben zu viel P. G. Wodehouse gelesen. Können Sie kochen?«
»Meine Kochkünste sind begrenzt, Madam, aber ich hoffe, dass Sie mit meinen Bemühungen zufrieden sein werden.«
»Na ja, wahrscheinlich muss gar nicht so viel gekocht werden. Ein Abendessen wird im Haus angeboten, und vermutlich werde ich das in Anspruch nehmen. Nun, wie gesund sind Sie? Offen gestanden, ich sehe mich nicht als Krankenpflegerin. Ich habe nichts übrig für Krankheiten, weder bei mir selbst, noch bei anderen.«
»Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr genötigt, einen Arzt aufzusuchen, Madam. Und ich bin fünfundzwanzig Jahre jünger als Sie selbst, wenn Sie den Hinweis gestatten.«
»Nach dem natürlichen Lauf der Dinge müsste ich vor Ihnen ableben. Wenn das geschieht, werden Sie vermutlich nicht weiter auf der Insel wohnen können. Sie wollen doch nicht mit sechzig plötzlich obdachlos dastehen.«
»Das Problem wird sich nicht stellen, Madam. Ich besitze ein Haus in Exeter, das derzeit mit befristeten Verträgen möbliert vermietet wird, meistens an Dozenten von der Universität. Ich habe vor, mich irgendwann dort zur Ruhe zu setzen. Die Stadt liegt mir am Herzen.«

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ieso gerade Exeter?, hatte sie sich gefragt. Welche Rolle hatte Exeter in Roughtwoods geheimnisvoller Vergangenheit gespielt? Schließlich war es nicht gerade eine Stadt, die starke Gefühle weckte, außer bei ihren Bewohnern.
»Dann könnten wir das Experiment wagen. Ich werde mich an die anderen Mitglieder des Stiftungsrates wenden. Denn das bedeutet, dass der Stiftungsrat mir zwei Cottages zur Verfügung stellen muss, möglichst nah beieinander. Ich gehe davon aus, dass keiner von uns ein gemeinsames Badezimmer wünscht.«
»Ein eigenes Cottage wäre mir in der Tat lieber, Madam.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.07.2006