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Investitionen in Kindergärten
und Schule fördern Integration

Experten sehen keine Parallelgesellschaft - wenig Perspektiven und Chancen

Von Claudia Utermann
Hamburg (dpa). Immer neue Abgründe scheinen sich zwischen Deutschen und Migranten im Land aufzutun. Spektakuläre Vorfälle, wie der »Ehrenmord« an einer jungen Türkin in Berlin oder Schlagzeilen über ethnische Konflikte an Schulen tragen zur Negativ-Statistik bei.

Hinzu kommen Bücher, in denen türkische Autoren Einblicke in ein fremdes Milieu geben. Schnell sprechen Politiker von einer »Parallelgesellschaft« und »Integrationsunwilligen«. Wissenschaftler warnen aber davor, Migranten zu stigmatisieren und Einzelfälle zu verallgemeinern.
In einer aktuellen Studie hat das Essener Zentrum für Türkeistudien (ZfT) untersucht, ob es nach wissenschaftlichen Kriterien Anzeichen für eine Parallelgesellschaft der türkischen Migranten in Deutschland gibt. »Es gibt keine Zunahme dieser Strukturen. Weder gibt es mehr Ghettobildungen noch werden Kontakte zwischen Deutschen und Migranten weniger«, fasst Martina Sauer vom ZfT die Ergebnisse zusammen.
Sie kritisiert, dass in den Debatten »Fragen der Chancengleichheit in Wirtschaft und Bildung außer Acht gelassen werden«. Denn ihre Studie hat ergeben, dass Migranten - egal ob gut integriert oder nicht - in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens schlechter gestellt sind.
»Es gibt in Deutschland zu wenig Perspektiven und Chancen für türkische Jugendliche«, sagt auch der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak aus München, Autor des Buches »Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer« (Lambertus Verlag, 2005). Wenn Jugendliche sich nicht über Bildung oder sozialen Status definieren könnten, besännen sie sich auf Ideale »aus den 60er Jahren«. Die Folge sei, dass türkische Migranten seit einigen Jahren nationalistischer und religiöser würden. »Wachsende Religiosität ist das einzige Anzeichen in Richtung einer Parallelgesellschaft«, stimmt ihm Sauer vom ZfT zu.
»Die problematische Gruppe ist die, die den Übergang zu den Ressourcen nicht hat, also die ohne Schulabschluss und Arbeit«, betont die Bremer Professorin für interkulturelle Bildung, Yasemin Karakasoglu. Das gelte genauso für deutsche Jugendliche. Karakasoglu hält Statistiken über zunehmende Gewalt oder Diskriminierung von Frauen für ein generelles Problem in Unterschichten: »Es gibt diese Verrohung und idealisierte Gangsterkultur, aber das kann nicht ethnisch zugeordnet werden«, sagt sie. Auch der Umgang mit dem anderen Geschlecht habe viel mit Bildung zu tun.
Karakasoglu und auch Toprak plädieren dafür, vor allem in Schulen und Kindergärten zu investieren, um die Integration zu fördern. »Wenn es ein tiefgreifendes Angebot gibt mit Krippenplätzen, Zusammenarbeit mit Eltern, Deutschkursen, türkischsprachigen Sozialarbeitern, einem offenen Schulsystem und so weiter, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand integrationsunwillig ist«, sagt Toprak. »Es gibt keine automatische Integration nur über das Zusammenleben und Deutschkurse allein helfen nicht immer weiter«, meint Karakasoglu.
»Verbote und Repressalien werden den Migranten nicht gerecht«, kritisiert Toprak. Viele Eltern zum Beispiel würden die hiesigen Angebote oder Bewerbungsformalitäten gar nicht kennen. In der Türkei könnten sie die Verantwortung für ihre Kinder an die Schulen abgeben. Sie hätten daher oft falsche Anforderungen an deutsche Schulen. Karakasoglu meint: Viele Eltern seien nicht handlungsunwillig, sondern handlungsunfähig.
Die Professorin plädiert dafür, »nicht ungeduldig zu sein«. Erst seit den 80er Jahren sei schließlich die Einsicht gewachsen, dass Migranten in Deutschland bleiben wollen.
Integrationsdefizite ließen sich besser verhindern, wenn Ausländerkinder schon vor ihrer Einschulung die deutsche Sprache beherrschten, sagte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gestern in Berlin. Dafür werde es zusätzliche Anstöße geben müssen. Die Bundesregierung könne Deutschkurse im Kindergarten allerdings nicht beschließen, dies falle in die Zuständigkeit der Länder. Das Bundeskabinett werde sich heute mit der Vorbereitung des für Freitag geplanten Integrationsgipfels befassen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für Freitag zu einem Integrationsgipfel ins Kanzleramt geladen. Erwartet werden 70 Vertreter von Ausländer- und Religionsverbänden, der Wirtschaft sowie der Länder und Kommunen.

Artikel vom 12.07.2006