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London mit den Augen
von Sir Alfred entdecken
Journalistin Sandra Shevey führt Hitchcock-Fans auf den Spuren des Meisters
Was tun in der Großstadt, die man schon mehrfach besucht hat und in der man die wichtigen Sehenswürdigkeiten kennt?
Manche lassen sich einfach treiben, andere versuchen es nach dem Motto zweimal rechts ab, dann einmal geradeaus, einmal links ab. Immer beliebter wird jedoch diese Variante: Fremdenführer bieten Themenrundgänge an und erschließen eine bekannte Stadt aus ganz neuer Perspektive. In London ist dafür Sandra Shevey zuständig. Die 63-jährige Journalistin stammt zwar aus New York, war aber irgendwann von Amerika so genervt, dass sie in ihre Lieblingsstadt London umzog. Dort bietet sie nun Führungen auf den Spuren von Sir Alfred Hitchcock an.
Eine prima Idee, denn zu Fuß, per Bus und U-Bahn geht es kreuz und quer durch die Themse-Metropole, vorbei an Bekanntem und zielgerichtet zu jenen Plätzen, die im Leben und Schaffen des Regisseurs eine wichtige Rolle gespielt haben.
Sandra Shevey war 27 Jahre alt, als sie dem Meister des wohldosierten Grauens erstmals begegnete - und sie war fasziniert von seiner Persönlichkeit. »Ein außergewöhnlicher Charakter - Hitchcock brachte in Interviews die Dinge brillant auf den Punkt, er nahm sich viel Zeit für seine Gesprächspartner, war zugleich höflich und rauh«, sagt Sandra, als wir von der U-Bahn-Station Bayswater zum Rundgang aufbrechen. »Aber er war auch ein gnadenloser Chauvinist, dessen Anzüglichkeiten mich sehr verwirrt haben.«
Sandra Shevey stellt sich in besonderer Weise auf ihre Gäste ein. Sind es Film-Enthusiasten, die mit Hitchcocks Werk vertraut sind? Dann steuert sie das Coburg-Hotel an, Drehort für einige Szenen aus »Frenzy«. Treppenhaus und Aufzug halten für den Kenner einen Déjà-vu-Effekt bereit. Sandra Shevey kennt aber auch das Wohnhaus von Sir Alfred, an dessen Fassade ein kleines blaues Schild an den berühmten Bewohner erinnert.
Mit dem aktuellen Besitzer der Wohnung, einem Banker, ist sie gut bekannt, weswegen sie auch gelegentlich mal Besucher mitbringen darf. Ein Raum ist noch mit Möbeln des Meisters eingerichtet. Hitchcock hatte das Domizil im Turner House ganz bewusst gewählt, denn es befand sich in der Nähe der U-Bahn-Station Earl's Court. Der Regisseur bewegte sich vorzugsweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln in London oder lief auch längere Strecken.
Zu der Kategorie »Und hier hat Hitchcock...« gehört auch das Brompton Oratory - die Hochzeitskirche des Meisters, wo er Gattin Alma ehelichte. Es ist eine der wenigen großen katholischen Kirchen im anglikanischen London, und Alma Hitchcock besuchte dort regelmäßig die Heilige Messe.
Sandra Shevey führt ihre Gäste auch in die Arbeitsweise des berühmten Regisseurs ein. Hitchcock dachte kommerziell - diesem Prinzip ordnete er alles unter. Deshalb sind viele Schauplätze nach optischen Gesichtspunkten gewählt. Sie besitzen einen hohen Wiedererkennungswert, aber es gibt auch viele Drehorte, die nicht identisch mit den Handlungsorten sind.
Und da auf dem Spaziergang auch der Stadtteil Notting Hill berührt wird, verweist Sandra auf den gleichnamigen Film: Der spielt auf der schönen Seite von Notting Hill, in Bayswater - zu sehen sind aber Aufnahmen aus dem benachbarten, nicht ganz ungefährlichen Viertel Ladbroke Grove.
Und so geht die Wanderung durch stille Seitenstraßen, die typisch britisches Flair atmen. Die Mews waren früher Wege zu den Hinterhäusern und Stallungen. Dort begegnet man ihm noch - dem Durchschnitts-Londoner mit stiff upper lip, dem Hang zum geduldigen Schlangestehen und unverhohlener Antipathie gegen Europa. »Ach«, sagt Sandra, »so eng sollte man das wirklich nicht nehmen. Also, ich akzeptiere natürlich auch den Euro als Honorar für meine Dienstleistungen.«
Aber zurück zu Sir Alfred: Gibt es eigentlich ein Denkmal für die Ikone des britischen Films? Sandra verzieht das Gesicht: »Ja, bei den ehemaligen Gainsborough Studios im Stadtteil Islington, die zu Appartements umgebaut wurden, steht eine Büste - aber da sieht Hitchcock aus wie Mao Zedong.«
Sandra verabschiedet sich - drei Stunden sind wie im Flug vergangen und waren spannend wie ein Film des Meisters.
Nun ist noch Zeit, um eine besser gelungene Hitchcock-Statue aufzusuchen. Sie ist aus Wachs und steht bei Madame Tussaud's. Noch immer fasziniert dieses Kabinett die Besucher, zumal sich die Attitüde gewandelt hat. Besucher dürfen den Promi-Repliken auf den Pelz rücken, sie anfassen und mit ihnen posieren.
Mit Brad Pitt, von dem Sandra Shevey behauptet, auf einer Skala von eins bis zehn müsse man ihn bei minus fünf einsortieren, lassen sich viele Fans fotografieren. Stars wie Gary Cooper und Cary Grant sind längst im Keller verschwunden.
Aber mit Sir Alfred Hitchcock geht das Management ebenso respekt- wie humorvoll um. Er steht in der ersten Reihe der Leinwand-Legenden, geschickt dahinter platziert sind die Bond-Darsteller Sean Connery und Pierce Brosnan. Das hat wahrhaft Stil! Thomas Albertsen
sandra_shevey@yahoo.comwww.madame-tussauds.co.uk

Artikel vom 15.07.2006