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Sicherheits-Experten stehen im
Rampenlicht der Defensiv-WM

Nur 2,29 Tore pro Partie - Gute Stürmer werden zu Opfern des Systems

Von Dirk Schuster
Bielefeld (WB). Der Unterhaltungswert dieser Weltmeisterschaft war hoch. Auf den Tribünen, in den Städten. Aber leider nur selten auf dem Rasen. Die Taktik als Bremsklotz für den erhofften Hochgeschwindigkeitsfußball: Dass nur bei einer WM, 1990 in Italien (2,21 im Schnitt), weniger Tore fielen als bei dieser (2,29), hat Gründe.

Der entscheidende ist, dass die meisten Trainer zu Gunsten des fünften Manns im Mittelfeld die zweite Spitze opferten. 4-5-1 lautete der Zahlencode für den Sicherheitsfußball. Also Viererabwehrkette, Fünfermittelfeld und vorne ein Ein-Mann-Sturm.
Fragen Sie doch mal den Portugiesen Pauleta oder den Franzosen Thierry Henry, wie denen die Rolle des stürmenden Alleinunterhalters gefallen hat. Die Verblüffung hätte sich in Grenzen gehalten, wäre Pauleta im zweiten Halbfinale aus lauter Verzweiflung immer mal wieder mit beiden Füßen auf den Ball gestiegen, um über die französischen Abwehrschränke Gallas und Thuram hinweg den Weg zum Tor zu suchen.
Vor der WM war Pauleta mit elf Treffern für Portugal erfolgreichster Torschütze in der Europa-Qualifikation. Bei der Endrunde erzielte der Angreifer nur ein einziges Tor. Zahlen, die belegen, worauf es seinem Trainer Luiz Felipe Scolari ankam, als es um die Wurst ging: Torsicherung.
Nein, ein Fest für Stürmer war die WM nicht. Oder ist es Zufall, dass der defensive Mittelfeldmann Maniche mit zwei Toren Portugals erfolgreichster Turniertorschütze wurde? Maniche ist nur einer von vielen so genannten Sechsern, die bei diesem Turnier ihren Triumphzug antraten. Patrick Vieira sorgte auf dieser Position mit einer Glanzleistung gegen Togo für Frankreichs Wende zum Guten und führt die teaminterne Scorerwertung (zwei Treffer, zwei Torvorlagen) an.
Der Italiener Andrea Pirlo bewies am eindrucksvollsten im Halbfinale gegen Deutschland, dass defensive Mittelfeldspieler für magische Momente sorgen können. Owen Hargreaves war einer der wenigen, wenn nicht der einzige Gewinner im englischen Team. Und auch Torsten Frings rückte auf dieser Position in den Blickpunkt und erntete Lorbeeren.
Trotzdem waren es die Deutschen, die dem Klub der Security-Teams konsequent die Mitgliedschaft verweigerten. Es spricht für Bundestrainer Klinsmann, dass er vom Auftaktspiel gegen Costa Rica bis zum Spiel um Platz drei gegen Portugal durchweg zwei Stürmer aufbot, von denen einer sogar Torschützenkönig wurde. Sein Beispiel zeigt, dass auch mutiger Offensivfußball zum Erfolg führen kann. Und es lässt die Hoffnung zu, dass in Zukunft nicht alle Teams den Platz betreten mit der Prämisse, kein Tor zu kassieren. Wenn Klinsmanns Beispiel Schule macht, dann bräuchte auch über Sepp Blatters Ideen von der Torvergrößerung und der Teamverkleinerung nicht weiter nachgedacht werden. Dazu der Mainzer Trainer Jürgen Klopp: »Diese Regeländerungen wären völliger Blödsinn.« Und Leverkusen-Coach Michael Skibbe: »Unsere Regeln sind gut. Die WM hat gezeigt, dass torarme Spiele sehr spannend sein können.«
Anders als die meisten Teams spielte Deutschland bei der WM erfolgreich mit dem Ball. Frankreich und Italien dagegen erreichten deshalb das Finale, weil sie das Spiel gegen den Ball perfektioniert haben. Es war kein Zufall, dass die Spiele mit deutscher Beteiligung einen viel höheren Erlebnischarakter hatten als die der Italiener, Franzosen und Portugiesen.
Doch zurück zum Sechser: Häufig besetzen Trainer beim Turnier diese Position doppelt. Nebeneinander spielten dann zum Beispiel Pirlo, der aus der Defensive heraus das italienische Offensivspiel inspirierte, und Gattuso, der zuverlässigen Abräumdienst erledigte und als erster echter Abwehrspieler schon vor der Viererkette fungierte.
Eine Revolution ist diese Spielweise aber nicht. Arminia Bielefeld gelang mit der Doppel-Sechs in der vorvergangenen Bundesligasaison unter Uwe Rapolder der Klassenerhalt. Der filigranere Detlev Dammeier und der bärbeißige Rüdiger Kauf machten gegnerischen Angreifern das Durchkommen schwer. Das System funktionierte so gut, dass Rapolder-Nachfolger Thomas von Heesen keinen Grund sah, dieses zu ändern. Der DSC-Coach: »Die WM hat bewiesen, dass Erfolge über eine gute Defensive eingefahren werden.«

Artikel vom 11.07.2006