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Verteidigende Italiener
glänzen auch im Angriff

Beim neuen Weltmeister treffen die Abwehrrecken

Von Friedrich-Wilhelm Kröger
Berlin (WB). Es ist fast unvorstellbar. Durchgeschüttelt von den Skandalwirren wird Italien Fußball-Weltmeister. In Deutschland hat die Mannschaft genug Abstand von den Ermittlungen und Prozessen zu Hause gefunden, um sich zum vierten Mal in der WM-Geschichte die Krone aufzusetzen.
Übersicht in allen Lagen: Ilatliens Maurermeister Fabio Cannavaro. Foto: dpa

»Sie hat unglaublich zusammengehalten und sich durch nichts beeinflussen lassen«, erklärte der Trainer nach dem Triumph. Marcello Lippi musste aber 120 nicht eben berauschende Minuten und neun Elfmeter lang warten, bis er mit seinen Spielern jubeln durfte. Dann war Frankreich bezwungen.
Man kann jetzt nicht behaupten, die glücklichen Gewinner hätten sich in einen wahren Spielrausch gesteigert. Ihr Feuer war nach der starken Vorstellung im Halbfinale gegen Deutschland dieses Mal nach nur einer Halbzeit erloschen. Aber die Abwehr um ihren Superchef Fabio Cannavaro ließ sich auch von drängenden Franzosen nicht übertölpeln und rettete das Elfmeterschießen. Die Idealdisziplin der Italiener ist das bisher nicht gewesen, die Erfolgsaussicht eigentlich ungenügend. Denn seit der WM im eigenen Land vor 16 Jahren wurden sie fast immer auf den Fleck gebeten, den sie anschließend auf ihrer weißen Weste wiederfanden. 1990 stoppte sie Argentinien, 1994 entschieden Strafstöße das Finale zu Gunsten von Brasilien, 1998 war es Frankreich, das sich durchsetzte.
Nun drehte die Squadra Azzurra den Elfmeter-Spieß gegen die Equipe Tricolore um. Und Fabio Grosso wurde zum zweiten Mal zum Held seiner Mannschaft bei diesem Turnier. Im Halbfinale traf er zum 1:0 gegen Deutschland, im Endspiel verwandelte der Verteidiger aus Palermo Strafstoß Nummer fünf zum 5:3. Unter diesen besonderen Umständen sprudelte es aus dem Schützen unaufhaltsam hervor: »In diesem Moment denke ich an alle Menschen, die mir nahe stehen, insbesondere an meine Frau und meine Familie. Ich widme ihnen diesen Sieg.«
Auch der Trainer machte den Erfolg seinen Angehörigen zum Geschenk. »Ich habe schon die Champions League gewonnen. Doch dies ist die Krönung, auch für mich«, sagte Lippi. Im Spiel war er recht schmallippig geworden, als die Angriffe nicht mehr rollen wollten und die Abwehr wieder einmal die größte Last Italiens zu tragen hatte. Nicht nur im Notfall ist sie dann auch für die Tore zuständig. Nach Frankreichs früher Führung durch Zinedine Zidane (7.) wuchtete Marco Materazzi nach einer Ecke von Andrea Pirlo den Ball per Kopf zum 1:1 (19.) ins Netz. Es war sein zweiter Treffer bei diesem Turnier und der insgesamt vierte eines italienischen Abwehrspielers. Da sage niemand, die könnten alles nur hinten weghacken.
Für das Feinsinnige sind trotzdem andere zuständig - allen voran Pirlo, den sie den »stillen Pirlo« nennen, weil er höchstens etwas sagt, wenn er gefragt wird. Er lässt lieber den Ball sprechen. »Wenn ich Andrea sehe, meine ich manchmal, dass ich den falschen Beruf habe. Ich denke dann, ich sollte mich vielleicht nicht Fußballer nennt«, sagt Gennaro Gattuso. Die beiden sind gute Mittelfeld-Nachbarn - beim AC Mailand und in der Nationalelf. Gattuso ist begabt im Ballschnappen, den er danach besser jemand anderem überlässt. Oft ist es Pirlo.
Beim Elfmeterschießen ging der 27-Jährige mit gutem Beispiel voran. Materazzi, de Rossi, Del Pierro und Grosso taten es ihm nach. Das treffliche Quintett stahl damit dem Torhüter die Schau. Gianluigi Buffon hätte auch gern den starken Mann gespielt, er musste sich aber mit ein paar lauten Tönen begnügen und fand es schließlich auch in Ordnung so: »Den fünften Elfmeter hätte ich mit Sicherheit gehalten. Aber das war zum Glück nicht nötig.«

Artikel vom 11.07.2006